Die Europameisterschaften in Berlin – sie waren beste Werbung für die Leichtathletik. Doch warum war das so? Warum hat unsere Sportart in diesem Sommer so viele neue Fans und Bewunderer gewonnen? Und was kann die Sportart daraus für die Zukunft lernen? Der Journalist Jörg Hahn hat sich auf Ursachensuche begeben.
„Ich gestehe: Meine längst erkaltete Liebe zur Leichtathletik ist neu entflammt.“ So stand es – fettgedruckt – in der BILD-Zeitung. Und so wie dem Reporter Walter Straten ist es vielen gegangen, sehr vielen. Von den beeindruckenden Zuschauerzahlen und Einschaltquoten des Fernsehens reicht ein Wert, um den Erfolg der European Championships mit der Leichtathletik-EM Berlin 2018 als emotionalem Zentrum deutlich zu machen: Insgesamt haben mehr als 43 Millionen Zuschauer mindestens eine Übertragung von den European Championships in Berlin und in Glasgow, wo sechs Sportarten ihre Europameister ermittelten, gesehen.
Am letzten EM-Tag, einem Sonntag, verfolgten den 5:0-Erfolg des deutschen Fußball-Meisters Bayern München im Supercup bei Pokalsieger Eintracht Frankfurt im ZDF 5,44 Millionen Zuschauer. Die deutschen Leichtathleten um Europameisterin Gesa Felicitas Krause verzeichneten in der ARD zeitlich parallel 5,16 Millionen Zuschauer. Und im Berliner Olympiastadion saßen an jenem Abend sogar fast 10.000 Besucher mehr als in der Frankfurter Arena.
Zu Recht wird Berlin 2018 als „Mustermesse“ (Michael Gernandt, der langjährige SZ-Sportchef, in einem Beitrag für die „Freunde der Leichtathletik“) für Sportevents der Zukunft gesehen – und verdientermaßen werden diese Titelkämpfe mit Auszeichnungen gewürdigt, wie dem Preis für Fairness und Olympische Werte der Deutschen Olympischen Gesellschaft, die dies so begründete: „Diese EM erreichte durch viele Dinge eine ganz besondere Ausstrahlung. Dahinter stand ein hochengagiertes Team, das in jeder Phase die Athleten/innen in den Mittelpunkt ihres Handelns stellte.“
Fairness, Freude, Natürlichkeit
Aber was genau steckt hinter „viele Dinge“? Es lohnt sich, eine Nahaufnahme der Erfolgsfaktoren zu machen. „Fairness, Freude, Natürlichkeit. So lieben wir den Sport“, schrieb Walter Straten in BILD, wissend, dass Doping alle Sportarten bedroht. Er lieferte Belege für seine Begeisterung:
„DIE FAIRNESS. Der weißrussische Hochspringer Maxim Nedasekau klatscht im Rhythmus der Fans mit, als sein deutscher Konkurrent Mateusz Przybylko über 2,35 Meter fliegt – obwohl er dadurch selbst Gold los ist.“
„DIE FREUDE. Ich konnte mich eine Woche lang nicht sattsehen an den fröhlichen Ehrenrunden mit Landesfahnen. Unsere Gold-Weitspringerin Malaika Mihambo schnappt sich die Silber-Ukrainerin und Bronze-Britin zum gemeinsamen Jubeln. Ungezwungen, ungeplant.“
„DIE NATÜRLICHKEIT. Vor den TV-Mikros sprudeln die Athleten nur so los. So wie Hochspringer Przybylko: ‚Als ich verstanden habe, dass ich Europameister bin, habe ich erst mal am Boden gelegen und geweint wie ein kleines Kind.‘ Das Gegenbild zu Fußballstars, die oft für Interviews gecoacht werden und dann immer das Gleiche brabbeln oder posten.“
Neue sportliche Helden
Wenn man präzise die Erfolgsfaktoren dieser Berliner EM herausarbeiten möchte unter der Fragestellung „Zufall oder Strategie?“ muss man drei Jahre zurückschauen, denn das Konzept entstand schon 2015, und mit dem sehr frühen Ticketstart unmittelbar nach den Olympischen Spielen in Rio im August 2016 begann bereits die Umsetzung.
Auf der einen Seite litt die Leichtathletik-EM im unmittelbaren Vorlauf unter der Fußball-WM in Russland und fand medial so gut wie nicht statt. Auf der anderen Seite entstand durch die vielen Negativschlagzeilen ganz offensichtlich ein günstiges Momentum. Deutschland war offen für neue sportliche Helden. Und Berlin lieferte sie. Denn alle Pläne können noch so professionell sein, wenn die Leistungen nicht stimmen, funktioniert das gesamte System nicht. In einem der schönsten Stadien mit der unverwechselbaren blauen Bahn und einer guten Zuschauerresonanz, auch aus dem Ausland, entstand eine emotionale, begeisterte Atmosphäre.
Die sportlichen Leistungen waren die besten einer EM seit 2002. Und die sportlichen Erfolge des deutschen Teams waren die zweitbesten nach der EM 1998. Nicht minder entscheidend war die zeitliche Abfolge der deutschen Erfolge. Beginnend mit David Storls Stoß in der Kugelstoßqualifikation, Gina Lückenkempers Silber am ersten Abend, Arthur Abeles Zehnkampf-Gold am nächsten Abend – und so ging es weiter. Die Struktur des Zeitplans genau unter dem Gesichtspunkt war schon zu Beginn des Jahres 2016 in Abstimmung mit DLV-Cheftrainer Idriss Gonschinska entstanden.
Revolution im Zeitplan
Die eigentliche, größte Revolution war dieser Zeitplan der Wettkampftage. Jede Abend-Session hatte eine wiederkehrende Dramaturgie von 19 bis 22 Uhr; nahezu nur Finals, kompakt ohne Pausen und langatmigen Phasen. Der Samstag mit einem atemberaubenden Zwei-Stunden-Programm bildete dabei den absoluten Höhepunkt. Die Sessions liefen nicht nur komplett im Fernsehen, sie waren auch vor Ort wie ein schnell geschnittenes TV-Highlight, die 60.500 Zuschauer hatten Angst, sich ein Getränk zu holen, da sie sonst etwas versäumt hätten. Gelingen konnte dies nur durch die Einbettung in den großen Plan der European Championships, da dadurch der Druck, zeitlich zu komprimieren, für alle Beteiligten sehr groß war.
Man muss sich vor Augen führen, dass in Berlin tradierte Abläufe über Bord geworfen worden sind, um Abend-Sessions anbieten zu können, die jede für sich wie ein Weltklasse-Meeting komponiert waren. Der Tag Q schaltete vor der ersten Abend-Session die notwendigen Qualifikationen vor, zudem wurden die Wettkämpfe durch Auslagerung der Siegerehrungen um mehr als sechs Stunden verkürzt: nämlich um 48 Medaillenvergaben mit je 8 Minuten Protokoll. Frage an die Experten: Wann fanden die sonst immer abschließenden 4x400-Meter-Staffeln statt? Nein, nicht am Sonntag, sondern schon am Samstag, so war noch Pep im Programm. Auch das war komplettes Neuland. Es wurden keine Disziplinen gekürzt, verändert oder gar gestrichen, es wurde mit Augenmaß und Kreativität dennoch eine „neue“ Leichtathletik geschaffen. Trotz des Feuerwerks an Entscheidungen behielt das Publikum den vollen Überblick, weil die Event-Präsentation – durch ausgefeilte Technik ebenso wie durch hochqualifizierte Moderatoren – Maßstäbe setzte.
Dass die Athleten sich in einzigartiger Weise wertgeschätzt fühlten, hatte mit der Nähe zwischen Stadt, Publikum und den Hauptdarstellern zu tun. Die „Europäische Meile“ an der Gedächtniskirche schuf diese besondere Beziehung. Das Konzept der WM 2009, die Straßenwettbewerbe mit Start- und Ziel in der Innenstadt auszutragen, wurde ergänzt durch die Qualifikationen im Kugelstoßen der Männer und erstmalig durch mitreißende Siegerehrungen (38, denn die vom Sonntag fanden im Stadion statt).
Leichtathletik wurde selfie-tauglich
So heroisch Siegerehrungen im Stadion sind und von einigen Zuschauern immer noch dort eingefordert werden, so eindrucksvoll hat die neue Art der Siegerehrung in Berlin gezeigt, welcher emotionale Mehrwert darin für eine Leichtathletik-Meisterschaft steckt. Die Athletinnen und Athleten durften durch das Publikum (bis zu 8.000 Menschen) herabschreiten, sich links und rechts abklatschen lassen. Zur Interaktion mit dem Publikum wurde Leichtathletik erstmalig in großer Form selfie-tauglich und hat so Berlin als offene, bunte Stadt in die Welt getragen – ein bisschen Sommermärchen. Unabhängig davon, dass Siegerehrungen im Stadion die sportlichen Wettbewerbe immer wieder unterbrechen und den Spannungsbogen so negativ beeinflussen. Leichtathletik als perfektes Live-Entertainment – Berlin hat es vorgemacht.
Das Kommunikationskonzept, stringent zwei Jahre unter dem Motto „Bereit für das Unerwartete“ digital und crossmedial ausgerollt, stellte die Athletinnen und Athleten immer in den Mittelpunkt. Damit gelang es, den Bekanntheitsgrad der EM stark zu erhöhen, aber vor allem wurde damit auch frühzeitig eine besondere Nähe zu einzelnen Sportlerinnen und Sportlern aufgebaut. Übergreifende Kooperationen mit der Deutschen Sporthilfe und der Deutschen Fußball Liga, eigene Content-Produktion wie etwa ein Hochglanzmagazin, geshootet von Starfotograf Jim Rakete, über eine Fotostrecke im „Playboy“ bis hin zur eigenen Donald-Duck- Geschichte mit dem Walt-Disney-Verlag, dienten dem einen großen Ziel: Berlin 2018 unvergesslich zu machen. Mission accomplished!
Die große „Message“ in einem Satz von Frank Kowalski, dem unermüdlich ideenreichen Geschäftsführer von Berlin 2018: „Die Leichtathletik muss nicht im Kern mit neuen Regeln verändert werden, sondern ist als Produkt stark genug, wenn sie professionell und vor allem zuschauergerecht präsentiert wird.“ Michael Gernandt schrieb von einer „Revue der fest haftenden Highlights“, und der strenge Kritiker hatte nur noch einen einzigen Wunsch offen: Dass der DLV das Berliner Modell auch auf sein nationales Championat überträgt. Und man möchte hinzufügen: Dass Berlin unbedingt weltweit Schule macht.
Autor
Jörg Hahn; Redakteur und Autor; von 1981 bis 2012 Redakteur der F.A.Z., seit 2004 als Leiter der Sportredaktion (Print und online); Berichterstattung von zahlreichen Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften; bis 2017 Direktor der Kommunikation der Stiftung Deutsche Sporthilfe; Buchveröffentlichungen, Moderationen, Seminare.