Unter dem Hallendach hat Dreispringerin Kristin Gierisch dieses Jahr ihr erstes EM-Gold gewonnen – das erste deutsche Gold überhaupt in dieser Disziplin. Bei den Weltmeisterschaften in London will sie international angreifen und in die Top Sechs springen. Auch einen Rekord hat die Chemnitzerin im Visier. Im Training sowie in der Familie findet sie die nötige Stärke.
Wirklich realisiert hat sie es noch immer nicht. Selbst wenn ihr gesagt wird, dass sie Hallen-Europameisterin ist, kann Kristin Gierisch (LAC Erdgas Chemnitz) ihr Glück kaum fassen. „Wäre im Vorfeld alles anders gewesen, könnte ich es vielleicht verstehen. Aber es lief diesen Winter einfach nichts. Keiner weiß, wo das bei der EM plötzlich hergekommen ist“, gibt sie sich selbst noch ungläubig über ihre Leistung.
Mit einem Satz auf 14,37 Meter sprang sie in Belgrad (Serbien) nicht nur europäische Jahresbestleistung, sondern gewann auch das erste deutsche Hallen-EM-Gold im Dreisprung überhaupt. Ein historischer Coup. Doch was kann jetzt noch kommen, nachdem sie sich ihren Traum erfüllt hat? „Eigentlich ist jetzt der perfekte Zeitpunkt, um aufzuhören“, lacht sie. Und erklärt dann: „Der große Traum ist es, auch draußen eine internationale Medaille zu gewinnen. Ich bin mir sicher, dass ich noch stärker sein kann.“
Hoffnung auf Regen
Die Heim-EM in Berlin 2018 wäre so eine Gelegenheit, ihr volles Potenzial unter Beweis zu stellen und endlich das ersehnte Edelmetall im Stadion zu gewinnen. Zuvor gilt es allerdings, den Fokus auf die kommende Saison zu richten. Allem voran natürlich die Weltmeisterschaften in London (Großbritannien; 4. bis 13. August). „Super wäre es, dort unter die Top Sechs zu springen. Aber auch Achte zu werden, wie in Peking 2015, wäre schön“, verrät Gierisch ihre Ziele.
Den Sprung ganz nach vorn in die Weltspitze hält die Chemnitzerin derzeit für unwahrscheinlich: „Die Plätze eins bis vier sind eigentlich schon weg. Da sind auf jeden Fall die Kolumbianerin Carterine Ibargüen und die Kasachin Olga Rypakova. Danach kommen dann eine Reihe Athletinnen, die gute Weiten über 14 Meter anbieten.“ Die Quali-Weite von 14,10 Metern schätzt sie hingegen für machbar ein: „Das sollte man schon springen, um sich bei einer Weltmeisterschaft zu präsentieren.“ Anders als viele andere Springerinnen hofft Kristin Gierisch in London zudem auf Regen: „Ich bin eine Regenspringerin. Keine Ahnung, wie das gekommen ist, aber für mich passt das gut.“
Angesprochen auf den knappen Meter, den die Weltspitze derzeit noch weiter springt als sie, entgegnet "Kiri" locker: „Was die anderen machen, ist mir eigentlich egal. Springen muss ich eh alleine. Frustrierend ist für mich nur, wenn ich mit mir selbst nicht zufrieden bin.“ Nicht zuletzt dank dem Gewinn der Goldmedaille in Belgrad hat die Dreispringerin gelernt, ganz auf sich selbst zu vertrauen und „immer an sich zu glauben, bis zum letzten Zentimeter. Denn die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt.“
Gesund zur DM in Erfurt
Spannend dürfte es aber auch auf nationaler Ebene werden. Mit Jenny Elbe (Dresdner SC 1898) und Neele Eckhardt (LG Göttingen) hat die Hallen-Europameisterin zwei starke Konkurrentinnen im eigenen Lager. „Die Leistungsdichte zwischen uns ist für den deutschen Dreisprung sehr gut. Sie verhilft unserer Disziplin und uns selbst zu mehr Präsenz“, bewertet die mehrfache Deutsche Meisterin das nationale Wetteifern. Wer sich dieses Jahr bei den Deutschen Meisterschaften in Erfurt (8./9. Juli) durchsetzen wird, lässt sich vorab also nicht ausmachen.
„Ich gehe auf jeden Fall locker in den Wettkampf“, erzählt Kristin Gierisch. In ihren Augen wird die Tagesform entscheiden. „Schön wäre nur, wenn ich endlich mal gesund an den Start gehen könnte. In den letzten beiden Jahren war ich zu den Deutschen immer krank“, erinnert sie sich. Positiv sei schon einmal, dass es für sie gefühlt eine Heim-DM ist: „Anders als Kassel oder Ulm liegt Erfurt nicht weit weg. Da kann ich am Wettkampf-Tag früh anreisen und muss nicht einen Tag vorher ins Hotel. Das bringt schon Vorteile, in vertrauter Umgebung in den Tag zu starten.“
Blindes Vertrauen in den Trainer
Ansonsten freut sich "Kiri" auf die familiäre und gemütliche Stimmung im Stadion: „Ich springe lieber in den kleineren Stadien. Da fühlt man sich nicht so verloren und erkennt vielleicht auch mal ein bekanntes Gesicht auf der Tribüne. Auch ist ein Stadion wie hier in Erfurt viel passender für eine DM als zum Beispiel das Olympiastadion in Berlin.“ Die Erinnerung an einen sehr weit zurückliegenden Wettkampf in Erfurt wird sie im Sommer auf jeden Fall ausblenden: „Vor ein paar Jahren hatte ich hier mal sechs Ungültige. Das soll sich natürlich nicht wiederholen. Schön wären Weiten über die 14 Meter.“
Und was ist es sonst, woran sie denkt, wenn sie Erfurt hört? „An meinen Freund“, erzählt sie mit einem lauten Lacher. „Der heißt so, nur mit einem 'h' am Ende.“ Wenn die Athletin über ihn spricht, strahlen ihre braunen Augen einmal mehr. Gleiches gilt für Trainer Harry Marusch. Seit 14 Jahren trainieren die beiden zusammen: „Ich würde bei keinem anderen Trainer trainieren. Herrn Marusch vertraue ich blind. Aber es würde auch kein anderer Trainer mit mir aushalten. Herr Marusch weiß genau, wie er mit mir umgehen muss, er hat meine Pubertät mit mir durchgemacht und mich nie im Stich gelassen.“
Trainingslager in Portugal
Wenig verwundern dürfte es entsprechend, dass Marusch auch im Trainingslager in Monte Gordo (Portugal) dabei war. „Ohne ihn geht nichts“, sprudelt es aus "Kiri" heraus. Gemeinsam mit dem DLV-Sprungkader standen hier im März 16 Tage lang hartes Aufbautraining auf dem Plan – einen Tag nur gab es trainingsfrei. „Wir absolvieren derzeit viele Umfänge. Kraft, Sprünge, Läufe. Ein Augenmerk liegt auf der Verbesserung meiner Schnelligkeit, die ist noch mein Manko“, beschreibt die Dreispringerin die aktuellen Trainingseinheiten.
Ende April geht es dann noch einmal für zehn Tage nach Portugal. Obwohl dann auch wieder die höchst ungeliebten langen Läufe auf dem Plan stehen – „alles über 200 Meter ist für mich Marathon!“ – freut sie sich auf die Harmonie im Team und dann hoffentlich besseres Wetter: „Beim letzen Mal hatten wir nur zwei schöne Tage.“ In die Saison einsteigen wird sie am 25. Mai in Garbsen, gefolgt von einigen internationalen Meetings und schließlich den Deutschen Meisterschaften und der WM in London.
Familie und Freunde geben Kraft
„Das Wichtigste ist, dass ich gesund bleibe. Das Knie und die Leiste haben wir im Griff, aber woher die Probleme mit der Knochenhaut kommen, das weiß keiner“, sagt Kristin Gierisch. Derzeit könne sie zwar keine Sprünge mit dem linken Bein machen, aber zu 95 Prozent verläuft das Training reibungslos. Was ihr neben der guten körperlichen Verfassung zugute kommt, sei auch die Unterstützung durch ihre Sportpsychologin Tanja Damaske. Ihr ist "Kiri" unheimlich dankbar, denn „sie hat mir schon so viel geholfen, sie ist in jeder Minute für mich da. Gerade auch während der schwierigen Zeit Anfang des Jahres hat sie mich sehr entlastet.“
Im Februar wurde der ältere Bruder von Kristin Gierisch zwei Tage lang vermisst. Ein wahres Schockerlebnis für die ganze Familie. „Dieses Erlebnis wünsche ich keinem. Und doch hat es mir gezeigt, dass es um andere Sachen geht im Leben.“ Die Familie und ihre engsten Freunde sind für die Chemnitzerin das Wichtigste. Für sie würde sie selbst den Sport außer Acht lassen. Derzeit kann sie ihrem Motto „Sport ist mein Leben“ aber glücklicherweise voll nachkommen. Entsprechend fällt ihr selbst in ihrer Freizeit kaum etwas ein, dass nichts mit Squash, Fußball oder anderen sportlichen Aktivitäten zu tun hat.
Klares Ziel: Deutscher Rekord!
Dabei besitzt Kristin Gierisch viele Talente. So war sie etwa im März als Co-Moderatorin bei der Chemnitzer Sportlergala im Einsatz oder zeigte sich beim Fotoshooting für ihre ersten Autogrammkarten vor der Kamera als Model. Selbst Nähen kann sie: „Wenn ich die Zeit und Lust finde, nähe ich mir meine Kleider gerne selbst. Das war mal so eine Idee von mir und da habe ich mir einfach eine Nähmaschine von meinen Eltern gewünscht.“
Unverändert im blauen Zweiteiler ihres Vereins steht "Kiri" im Sommer wieder auf der Tartanbahn, um Anlauf auf die Grube zu nehmen. Dann heißt es wieder: Hop, Step, Jump! Mit einer Freiluft-Bestleistung von 14,38 Meter hat sie dabei stets den deutschen Rekord von 14,57 Metern – aufgestellt 2011 von Katja Demut – im Blick: „Ich höre nicht eher auf, bevor ich den geschafft habe“, lacht sie laut los.