Das war ein Saisonauftakt im Flow. Jessica-Bianca Wessolly pulverisierte zuerst ihre 60-Meter-Bestzeit und war danach auch über 200 Meter nicht aufzuhalten. Auf ihrer Spezialstrecke blieb die 28-Jährige erstmals in der Halle unter 23 Sekunden und machte einen großen Schritt in Richtung WM-Teilnahme im Sommer in Tokio.
Fünfmal Deutsche Meisterin über 200 Meter, dreimal EM-Halbfinale, Olympia-Teilnahme 2021 sowie WM-Fünfte 2019 mit der Sprintstaffel. Bei der Heim-EM in München 2022 außerdem ein ungewöhnlicher Eintrag in der sportlichen Biographie einer DLV-Athletin: Jessica-Bianca Wessolly (VfL Sindelfingen) kam jeweils im Vorlauf über 4x100 Meter und 4x400 Meter zum Einsatz und trug zum Finaleinzug beider DLV-Staffeln bei. Seit mittlerweile sieben Jahren gehört die 28-Jährige zu den besten Sprinterinnen in Deutschland und mischt international mit. Geht da noch mehr? Ihr Start ins Jahr 2025 spricht dafür.
Mit nach wie vor Spaß am Alltag einer Leistungssportlerin sowie dazugewonnener Maximalkraft und Gelassenheit ist ihr ein Saisoneinstand nach Maß gelungen. Über 60 Meter steigerte die Lehramtsstudentin ihre knapp vier Jahre alte Bestzeit gleich um 13 Hundertstel auf 7,28 Sekunden. Diesen Schwung nahm sie auch auf ihre Paradestrecke mit und blieb erstmals unterm Hallendach unter 23 Sekunden. Die Siege bei den zur Indoor Tour des Weltverbandes World Athletics gehörenden Meetings in Dortmund (23,02 sec) und Luxemburg (22,84 sec) brachten außerdem wertvolle Ranking-Punkte für die Qualifikation für die Weltmeisterschaften im Sommer in Tokio (Japan; 13. bis 21. September).
Arbeit an Beschleunigung zahlt sich aus
An Startphase und Beschleunigung arbeitet Jessica-Bianca Wessolly schon, seitdem ihr langjähriger Trainer Michael Manke-Reimers sie als U20-Athletin von den 400 Metern zum Kurzsprint holte. Mit Unterstützung von Helmut Valentin beim VfL Sindelfingen nahm das Duo vor anderthalb Jahren erstmals Maximalkrafttraining ins Trainingsprogramm auf. „Vorher habe ich mich in Zusammenarbeit mit Mareike Rittweg auf allgemeines Krafttraining konzentriert, auch um den Körper auf noch höhere Belastungen vorzubereiten“, erzählt die Sprinterin, die dank dieses behutsamen Aufbaus in ihrer Karriere erst einmal eine Muskelverletzung hatte. Das Training mit Mareike Rittweg läuft parallel zum Maximalkrafttraining weiter.
Die dazugewonnene Kraft auf die Bahn zu bringen, hat allerdings Zeit gebraucht. „Im Training hat es schon immer besser geklappt. Aber im Wettkampf ist es mir noch nicht so gut gelungen.“ Das änderte sich beim Wettkampf-Auftakt ins Jahr 2025 Anfang Januar. Der 60-Meter-Vorlauf beim Hallensportfest in Mannheim war technisch so gut wie kein anderes Rennen über diese Strecke zuvor und für diese Kurzstrecke ein Quantensprung: 7,41 Sekunden standen bisher aus dem Jahr 2021 als Bestzeit zu Buche, die Uhr blieb diesmal bei 7,28 Sekunden stehen.
„Das war ein emotionaler Moment“, berichtet die zweimalige WM-Teilnehmerin. „Endlich konnte ich zeigen, was ich wirklich kann.“ Dieser Saisonauftakt war nicht nur ein Nachweis der körperlich dazugewonnenen Leistungsfähigkeit, sondern brachte auch mental weitere Zuversicht, für die als nächstes geplanten Starts über 200 Meter in Form zu sein.
Zwei Siege, zwei Bestzeiten und ein Sprung im World-Ranking
Beim Sparkassen Indoor Meeting in Dortmund stürmte Jessica-Bianca Wessolly der Konkurrenz am vergangenen Wochenende auf und davon. Obwohl die Rundbahn in der Helmut-Körnig-Halle nicht als die schnellste gilt, steigerte sie ihre Hallenbestzeit auf 23,02 Sekunden. Das waren die nächste Bestätigung und der nächste Ansporn, gleich am nächsten Tag in Luxemburg noch eins draufzusetzen.
Mit der EM-Vierten über 100 Meter und Lokalmatadorin Patrizia van der Weken (Luxemburg) hatte die Sindelfingerin dort auch eine Konkurrentin, die mit ihr Schulter an Schulter auf die kurze Zielgerade einbog. Dort bewies die DLV-Athletin, dass sie trotz verbesserter Beschleunigung ihre Sprintausdauer nicht verloren hat und setzte sich ab. In 22,84 Sekunden fiel die 23-Sekunden-Marke deutlich. Nur sechs deutsche Sprinterinnen waren in der Geschichte unterm Hallendach über 200 Meter jemals noch schneller.
Im Word Ranking sind beide Ergebnisse auch durch die Platzierungspunkte im Rahmen der World Indoor Tour besonders wertvoll. In der „Road to Tokyo“, also dem Qualifikations-Ranking für die WM im Sommer, spülten die Leistungen Jessica-Bianca Wessolly auf den 16. Platz. Insgesamt gibt es 48 Startplätze über 200 Meter. „In der Halle gibt es gute Punkte. Ich habe jetzt im Schnitt 20 Punkte mehr, als für die Quali für Paris nötig gewesen wäre. Das ist eine sehr gute Ausgangsposition.“
Los Angeles schon im Hinterkopf
So sehr die Zahlen aktuell für sie sprechen, so genau weiß Jessica-Bianca Wessolly auch, dass es genau umgekehrt sein kann. Im vergangenen Jahr verpasste die 28-Jährige die Olympia-Qualifikation über das World Ranking um wenige Punkte und blieb dann kurz nach dem Ende des Normzeitraums mit neuer Bestzeit von 22,50 Sekunden in La Chaux-de-Fonds (Schweiz) unter der Direkt-Norm für die Spiele in Paris (Frankreich).
Dieses 200-Meter-Rennen Mitte Juli war schon ihr 21. des Jahres 2024. Weil die DLV-Athletin 2023 von Achillessehnenproblemen ausgebremst worden war, nahm sie keine Punkte im World-Ranking mit und musste für die angestrebte Olympia-Qualifikation von Null anfangen. „Da hatte ich von Anfang an Druck, musste viele Rennen bestreiten und möglichst gute Ergebnisse abliefern.“ Kopf und Bedingungen spielten nicht optimal mit. Was befreit vom Qualifikations-Druck möglich ist, zeigte nach der Bestzeit von La Chaux-de-Fonds unter anderem auch noch Rang zwei in 22,83 Sekunden im Rahmenprogramm des Diamond League-Meetings von Lausanne (Schweiz).
Dieser unglückliche Saisonverlauf hinterließ keinen Frust, sondern löste eher eine Trotzreaktion aus. „Ich möchte noch einmal zu den Olympischen Spielen in Los Angeles“, erklärt die dreimalige EM-Halbfinalistin ihr langfristiges Ziel. „Die Motivation ist nach wie vor hoch, und mir macht der Sport einfach weiterhin unheimlich viel Spaß.“
Hallen-DM und Start ins Referendariat weitere Pläne für den Winter
Die starken Zeiten zum Ende der vergangenen Saison konnte die Athletin vom VfL Sindelfingen als Schub in die zurückliegende Wintervorbereitung mitnehmen. „Ich konnte auf dem höheren Niveau aufbauen. Das ist auch mental ein großer Vorteil.“ Dazu kommt die ebenfalls schon geschaffene Basis im World Ranking, in dem diese Leistungen weiterhin berücksichtigt werden.
Unterm Strich hat Jessica-Bianca Wessolly dadurch Gelassenheit dazugewonnen, die ihr geholfen hat, befreit ins neue Wettkampfjahr zu starten. Ein weiterer Baustein ihrer starken Zeiten, die durchaus auch gezielt vorbereitet waren. Das Training war auf das Wochenende mit den beiden 200-Meter-Rennen ausgelegt, diese Wettkämpfe auch wegen ihrer Wertigkeit mit Blick auf die WM-Qualifikation ausgewählt. So viel mehr hat die Hallensaison über diese Strecke auch nicht mehr zu bieten. „Ich laufe noch am 8. Februar in Metz, wenn ich dort einen Startplatz bekomme. Dann stehen noch die Deutschen Hallenmeisterschaften an.“ Bei der Hallen-EM in Apeldoorn (Niederlande; 6. bis 9. März) und der Hallen-WM in Nanjing (21. bis 23. März) sind die 200 Meter nicht im Programm.
Dafür hält der Winter noch einen beruflichen Meilenstein bereit. Ihre Masterarbeit im Rahmen ihres Lehramtsstudiums in den Fächern Mathematik und Biologie hat die 200-Meter-Spezialistin abgegeben, im Februar beginnt ihr Referendariat. Auch durch Austausch mit der ehemaligen 400-Meter-Hürden-Läuferin Carolina Krafzik (VfL Sindelfingen), die ebenfalls Leistungssport und Tätigkeit als Lehrerin verbunden hatte, ist Jessica-Bianca Wessolly überzeugt, beides erfolgreich miteinander zu vereinbaren.