| Interview der Woche

Johannes Vetter: „Der Weg zurück ist extrem hart und wird hart bleiben“

97,76 und 96,29 Meter: Zwei der drei weitesten Würfe der Leichtathletik-Geschichte gelangen mit dem neuen Speer Johannes Vetter (LG Offenburg). Seit anderthalb Jahren wird der 30-Jährige allerdings von einer hartnäckigen Schulterverletzung ausgebremst. Am Samstag gelang ihm bei den #True Athletes Classics der erste 80-Meter-Wurf seit Mai 2022. Im Interview spricht Johannes Vetter über sein Comeback in Leverkusen, seine Ziele und warum er bis vor ein paar Wochen nicht einmal einen Stein ohne Schmerzen ins Wasser werfen konnte.
Martin Neumann

Johannes Vetter, wie geht es Ihnen knapp 24 Stunden nach den #True Athletes Classics?

Johannes Vetter:
Ich bin zufrieden, was die Schulter angeht. Das ist ein Teilerfolg. Denn mein Minimalziel war es, einen Wettkampf mit sechs vollen Würfen durchzuziehen, ohne das Gefühl zu haben, dass danach eine Behandlung nötig ist. Der Gesamtkörper jammert natürlich, weil die Wettkampf-Belastung so groß war. Es fehlen schlicht und einfach seit anderthalb Jahren die harten Reize und Belastungen.

Wann haben Sie sich eigentlich zum für viele überraschenden Start in Leverkusen entschieden?

Johannes Vetter:
Am Dienstagabend, also vier Tage vor dem Wettkampf. Am Dienstag konnte ich erstmals seit Langem wieder mehrere Würfe aus vollem Anlauf absolvieren, ohne dass die Schulter extrem reagiert hat. Das war in den vergangenen anderthalb Jahren nicht möglich. Und natürlich war Leverkusen meine letzte Chance auf einen WM-Start.

Für einen Budapest-Start hätten Sie in Leverkusen die direkte WM-Norm von 85,20 Metern werfen müssen, da Ihnen im World Ranking die nötige Anzahl an Wettkämpfen fehlt. Am Ende wurden es 80,82 Meter. Wie ordnen Sie das Ergebnis ein?

Johannes Vetter:
Man hofft natürlich auf den Ausrutscher, der ist im Speerwurf immer möglich. Wichtig ist zunächst, dass die Schulter zufriedenstellend reagiert hat. Die Schmerzen waren nicht so groß. Frustrierend ist, wenn man daran denkt, aus welchen Leistungsbereichen ich 2020 und 2021 gekommen bin. Der Weg zurück ist aktuell extrem hart und wird auch zu den Olympischen Spielen in Paris hart werden.

Sie hatten wahrscheinlich mit einer größeren Weite geliebäugelt. Und der erste ungültige Versuch war ja sehr vielversprechend …

Johannes Vetter:
… ja, der war ein Stück weiter als mein Endergebnis von 80,82 Metern. Hätte ich den an der Abwurflinie halten können, hätte ich mich vielleicht anders in den Wettkampf reinfuchsen können. Aber Leistungssport auf diesem Niveau findet nicht im Konjunktiv statt. Und ganz klar: Die WM-Norm war mein Maximalziel in Leverkusen.

Die WM-Norm war in Leverkusen mit einer gelben Linie markiert. Wie groß war Ihre Hoffnung, diese zu übertreffen?

Johannes Vetter:
Wie gesagt: Im Speerwurf ist sehr viel möglich. Nach unten wie nach oben. Möglich wäre es gewesen, es hat halt nicht geklappt. Es war klar, dass es schwierig wird, aber nicht unmöglich. Was ich schnell gemerkt habe: Viele Automatismen fehlen noch. Aber der erste Wurf hat mir durchaus Selbstvertrauen gegeben. Wir haben alle Würfe – im Wettkampf und beim Einwerfen – analysiert. Die größten Fehler bei den Würfen konnte ich dann beim nächsten Versuch abstellen. Aber dann sind andere Fehler aufgetaucht. Ein, zwei Sachen konnte ich bewusst ansteuern, doch längst nicht alle. Wo soll es auch herkommen nach der langen Pause? Es ist einfach ein schmaler Grat, dass alles zusammenpasst. Doch psychologisch war es für mich wichtig, mein Minimalziel mit sechs vollen Würfen erreicht zu haben.

Zum besseren Verständnis: Nehmen Sie uns doch einmal mit in Ihren Körper. Wie fühlt sich Ihre lädierte Wurfschulter bei Belastung an?

Johannes Vetter:
Für den Otto Normalbürger ist das wahrscheinlich sehr schwierig zu verstehen, weil halt im Hochleistungssport extreme Belastungen wirken. Aber ich probiere es mal. Im größten Spannungspunkt beim Abwurf, beim Stemmen, kommt es plötzlich zu einem enormen Schmerz in der Schulter. Passiert das, schützt sich der Körper bei den folgenden Würfen und geht in eine Schonhaltung. Damit sind keine großen Weiten möglich. Bis vor einigen Wochen konnte ich nicht einmal einen Stein intuitiv ins Wasser werfen. Ich musste mich darauf konzentrieren, dass die Bewegung sauber ausgeführt wird. Wenn die Brustspannung beim Abwurf passt, ist es nicht so schlimm.

Seit wann bereitet Ihnen die Wurfschulter diese massiven Probleme?

Johannes Vetter:
Die Probleme begleiten mich seit dem Winter 2021/2022. Es war ein eher schleichender Prozess. Zunächst dachten wir, es wäre ein muskuläres Problem. Im Sommer 2022 ging dann gar nichts mehr. Eine lange Pause sollte helfen, hat sie aber nicht. Denn die Probleme waren im vergangenen Winter immer noch da.

Gibt es eigentlich eine genaue Diagnose der Verletzung?

Johannes Vetter:
Leider nicht. Die MRT-Bilder der Schulter sehen alle gut aus. Die Spezialisten attestieren mir, dass die Schulter für mein Alter bei meiner Belastung in Ordnung ist. Viele verschiedene Therapien und auch Spritzen haben nicht den erwünschten Erfolg gebracht. Mittlerweile gehen wir davon aus, dass die vordere Kapsel des Schultergelenks verdickt ist. Darum haben wir speziell diesen Bereich über viele Monate mobilisiert und gekräftigt. Das heißt: Physiotherapie jeden Tag. Man darf die Behandlung aber auch nicht überreizen. Sonst gibt’s Rückschläge, die einen immer wieder zwei, drei Wochen kosten. Mittlerweile habe ich die Behandlungen zurückgefahren. Ich traue mich mittlerweile wieder, voll in die Spannung reinzugehen. In dieser Situation können wir nun wieder stärker an der Technik arbeiten, ohne es zu übertreiben. Denn das könnte die Schulter wieder zu sehr reizen und einen Rückschlag hervorrufen. Genau diese Balance zu halten, wir die Challenge in den kommenden Wochen. Mittlerweile hoffen wir, den richtigen Weg gefunden zu haben.

Um es einzuordnen: Wie viele Würfe im Training und im Wettkampf fehlen Ihnen 2022 und 2023 im Vergleich zu den Vorjahren?

Johannes Vetter:
Das kann ich gar nicht beziffern. Das sind ja nicht nur Speerwürfe, sondern auch Würfe mit Medizinbällen und anderen Geräten. Entscheidend ist, dass viele wettkampfspezifische Würfe mit hoher Intensität fehlen. Um es noch einmal zu sagen: Würfe mit 100 Prozent konnte ich erst wieder vergangenen Dienstag und am Sonntag in Leverkusen absolvieren.

Nach Leverkusen ist klar: Europameister Julian Weber wird als einziger DLV-Speerwerfer bei der WM in Budapest vertreten sein. Was trauen Sie Ihm zu?

Johannes Vetter:
Julian hat einen guten Drive aufgenommen. Er hat sich bei der EM 2022 schon belohnt und wird sich auch in Budapest belohnen. Er ist cool und wird sein Ding machen. Wofür es reicht, wird man sehen. Zwischen Platz eins und sechs ist im Speerwurf alles möglich. Denn die Disziplin ist sehr fehleranfällig.

Werden Sie denn noch Wettkämpfe in dieser Saison bestreiten?

Johannes Vetter:
Die sind nach den Erfahrungen in Leverkusen auf jeden Fall geplant. Es geht darum, mit einem guten Gefühl die Olympia-Vorbereitung für Paris zu beginnen.

Und wann wird Johannes Vetter wieder die Weltklasse aufmischen?

Johannes Vetter:
Ich traue mir durchaus Würfe um die 85 Meter noch in diesem Jahr zu. Und 2024 geht’s wieder in die Vollen.

Mehr:
Julian Weber dominiert in Leverkusen, Johannes Vetter mit 80-Meter-Comeback​​​​​​​

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