Das Leichtathletik-Jahr 2022 mit der WM in Eugene (USA) und der Heim-EM in München ist fast Geschichte. Wir haben in den letzten zwölf Monaten von zahlreichen nationalen und internationalen Meisterschaften in Text, Bild und Video berichtet. Zum Jahresende erinnert sich die leichtathletik.de-Redaktion in persönlichen Rückblicken an besondere Momente der Saison. Heute: Ein Rückblick auf die U20-WM in Cali.
Kolumbien also. Es hätte weniger spannende Reiseziele für die diesjährigen U20-Weltmeisterschaften geben können. Moment mal, Kolumbien? Eine Leichtathletik-WM? Und dann auch noch in Cali? Da war doch was! Die Plattform „Statista“ listet die drittgrößte Stadt des Landes im vergangenen Jahr mit einer Mordrate von 52,24 pro 100.000 Einwohnern auf – im weltweiten Ranking liegt Cali damit auf Platz 24 der gefährlichsten Städte der Welt. Ob unter diesen Voraussetzungen die Durchführung der U20-WM eine gute Entscheidung ist?
Immerhin fanden schon 2015 die U18-Weltmeisterschaften in Kolumbien statt. So schlimm kann es also nicht sein. Ab nach Cali! Von Frankfurt/Main aus ist die Stadt in rund 14 Flugstunden zu erreichen. Mit dem Bus geht es für die Nationalmannschaften vom Flughafen aus schließlich in Richtung der jeweiligen Teamhotels. Immer mit dabei: Ein Begleit-Motorrad der Polizei mit zwei Beamten. Ob zur Symbolkraft oder zum tatsächlichen Schutz, bleibt (lange) offen – zumindest das deutsche Team macht keinerlei negativen Erfahrungen!
Ganz im Gegenteil: Es ist eine unbeschwerte Zeit, in der die Nationen dieser Welt ein friedliches Leichtathletik-Fest miteinander feiern. Rund ein halbes Jahr nach dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, erscheint das keineswegs als selbstverständlich.
Denkwürdiger Friseurbesuch
Einziger Zwischenfall aus deutscher Sicht: Der Besuch eines DLV-Athleten beim örtlichen Friseur endet mit einer Schnittwunde am Ohr. Autsch! Sportlich läuft es für das deutsche Team in Cali dagegen rund. Einmal Gold, vier Mal Silber und dreimal Bronze lautet die Ausbeute nach sechs Wettkampftagen. Seit der U20-WM 2008 in Bydgoszcz (Polen) stand das DLV-Team bei diesen Titelkämpfen nicht mehr so häufig auf dem Podium. Und doch sind es nicht immer die Erfolge, die einem vordergründig in Erinnerung bleiben. Sondern auch der Umgang mit Rückschlägen.
Zum Beispiel der von Mika Sosna (TSG Bergedorf), der als Weltrekordhalter nach Kolumbien reist und am Ende „nur“ Zweiter wird – geschlagen ausgerechnet von seinem deutschen Team-Kollegen Marius Karges (Eintracht Frankfurt). Klar, die Enttäuschung über den verpassten Titel ist dem 19-Jährigen wenige Minuten nach dem Wettkampf ins Gesicht geschrieben. In der Mixed-Zone im Doppel-Interview mit Marius Karges bringt er diese auch zum Ausdruck, hebt dabei aber auch die starke Leistung seines Kontrahenten hervor. Man könnte meinen: Klar, das muss er schließlich sagen. Doch es scheint glaubwürdig zu sein. Wirkliche Größe zeigt sich eben erst im Moment der Niederlage.
Oder aber eine junge deutsche Athletin, die aufgrund ihrer Weltranglistenposition ebenfalls zu den absoluten Medaillenkandidatinnen ihrer Disziplin zählt. In der Qualifikation läuft es gut, doch im Finale soll es nicht für den ganz großen Schlag reichen. War es der große Druck? War es der Wind? Vollkommen egal – die Emotionen müssen raus: Die Tränen fließen in der Mixed-Zone. In solchen Momenten zeigt es sich, wie wichtig Teamspirit wirklich ist. Tröstend wird sie von einer Mannschafts-Kollegin in den Arm genommen. Ob in guten oder schlechten Zeiten – das Team hält zusammen.
Ist Cali bereit für die WM der Aktiven? World Athletics sagt „Ja“
Die Stimmung im 33.000 Zuschauer fassenden Estadio Olimpico Pascual Guerrero ist unterdessen die gesamte Veranstaltung über gut. Die Tribünen sind insbesondere zu den Abend-Sessions nicht schlecht besucht, am Abschlusstag sind die Unterränge sogar fast komplett gefüllt. Okay zugegeben, viele Tickets wurden an die einheimische Bevölkerung verschenkt, doch das Interesse der Kolumbianer an Leichtathletik auf Spitzenniveau ist vorhanden.
Allerdings verläuft in Cali nicht alles reibungslos. Zwei Athleten einer anderen Nation werden beim Joggen ausgeraubt, bleiben aber unverletzt. Stadionordner versperren akkreditierten Medienvertretern von einem Tag auf den anderen den Zugang zur Mixed-Zone, erst nach Intervention eines World Athletics-Offiziellen lässt sich das Missverständnis lösen. Und auch das Stadiondach über der Medientribüne zeigt sich beim Abhalten von Regen nicht immer als vollständig hilfsbereit.
Und dennoch sind es in diesen Tagen nur Randnotizen, denn alles in allem bewährt sich Cali. Ist die WM der Aktiven in Zukunft also eine realistische Option? Offensichtlich ja. „Wir würden uns freuen, wenn wir für die Zukunft eine Bewerbung aus Cali erhalten würden“, sagt bei der Abschlusspressekonferenz Jon Ridgeon, CEO von World Athletics. Und wer weiß: Die Austragungsorte der Leichtathletik-Weltmeisterschaften 2027 und 2029 sind weiterhin offen.