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Rico Freimuth: Die Nummer eins der Welt und der lange Weg zum perfekten Zehnkampf

Es war ein Zehnkampf wie aus einem Guss! 8.663 Punkte sammelte Rico Freimuth (SV Halle) vergangenes Wochenende in Ratingen. Nur Ex-Weltrekordler Roman Sebrle war jemals beim Traditionsmeeting am Niederrhein besser. Die Zuschauer erlebten einen konzentrierten und glänzend aufgelegten Rico Freimuth, der nach seinem Coup schon wieder nach vorne blickte: auf den perfekten Zehnkampf.
Martin Neumann

Konzentriert und mit jeder Menge Ausdauer absolvierte Rico Freimuth (SV Halle) auch die elfte Disziplin beim Zehnkampf vergangenes Wochenende in Ratingen. Auf dem ausladenden Podest mitten auf dem satten Grün des Platzes schrieb der 29-Jährige Autogramme, bis die Finger glühten und setzte für jeden Fotowunsch der jungen und alten Fans ein strahlendes Lächeln auf.

Es war ein ehrliches Lachen des WM-Dritten. Nach den zwei harten Zehnkampf-Tagen war Rico Freimuth mit sich im Reinen. „Ich bin stolz auf die Leistung“, sagte er. Und das durfte er zu Recht sein. <link news:57977>Schließlich hatte er in den zehn Disziplinen nicht nur seine eigene Bestleistung vom Bronze-Zehnkampf der WM in Peking um 102 auf 8.663 Punkte verbessert, sondern sich auch an die Spitze der Weltjahresbestenliste gesetzt. Weder Götzis-Sieger Damian Warner (Kanada; 8.591 Punkte) noch der zweimalige Weltmeister Trey Hardee, der zur selben Zeit bei den US-Trials im Schongang lediglich 8.225 Zähler erzielte, kommen momentan in seine Regionen.

Die Schwächen minimiert

Nicht nur die Gesamtleistung von Rico Freimuth war imposant, sondern auch die Art und Weise, wie er sie erzielte. Weitsprung, Hochsprung und Diskuswurf beendete er vorzeitig, um Kräfte zu sparen. Über 1.500 Meter versteckte sich der 29-Jährige nicht im Feld, sondern lief mutig vorweg. Ein passendes Bild für den „Vorläufer“ im ohnehin starken Lager der deutschen Zehnkämpfer.

Mit dem Ratingen-Dritten Kai Kazmirek (LG Rhein-Wied; 8.478 Punkte), Mathias Brugger (SSV Ulm 1846; 8.294 Punkte) und Luca Wieland (LAZ Saar; 8.201 Punkte) tummeln sich momentan drei weitere deutsche Zehnkämpfer in der Weltklasse. Dazu kommen die verletzten bzw. noch nicht wieder ganz fitten Arthur Abele (SSV Ulm 1846), Michael Schrader (SV Halle) und Jan Felix Knobel (Königsteiner LV). Kein anderes Land kann aus einem solchen Reservoir an Top-Zehnkämpfern schöpfen.

Das Erfolgsgeheimnis von Rico Freimuth ist dabei ganz einfach: Er hat es zusammen mit seinem Trainerteam in den zurückliegenden Monaten geschafft, seine schwächeren Disziplinen zu verbessern. In den Sprüngen ließ er in der Vergangenheit stets Punkte liegen. In Ratingen stellte er im Weit- (7,60 m) und Hochsprung (2,01 m) neue Bestleistungen auf und egalisierte seinen Hausrekord mit dem Stab (4,90 m). Die achte Disziplin trainiert er nun regelmäßig in Potsdam bei Nachwuchs-Bundestrainer Stefan Ritter. „Ich werde noch zum Springertyp“, kommentierte der Hallenser die Ergebnisse mit einem breiten Grinsen.

Am Rhythmus gefeilt

Eintreten wird das wohl nicht mehr. Doch die Zahlen lügen nicht. Mit seinen drei Ratingen-Leistungen sammelte er 2.653 Punkte und damit 109 mehr als bei seinem bisher besten Zehnkampf 2015 in Peking. Der Hallenser fühlt sich seit jeher wohler auf der Sprint-Bahn. 100 Meter und 110 Meter Hürden sind seine Paradedisziplinen. Auch wenn es nicht immer elegant aussieht, wenn der 29-Jährige mit zusammengebissenen Zähnen und gesenktem Kopf wie eine Stier in der Arena dem Ziel (zumeist von der Spitze) entgegenstürmt.

„Wir haben viel an der Rhythmisierung im Weitsprung gearbeitet“, erklärte Wolfgang Kühne die Steigerung seines Schützlings. Der Kopf im Trainerteam von Rico Freimuth – den dieser mit „Herr Kühne“ anredet – spricht damit ein technisches Defizit an. Seinem Schützling gelang es zu selten, den Körperschwerpunkt vor dem Absprung abzusenken. Nur so kommt man in die optimale Ausgangsposition für ganz weite Sprünge. So hatte Rico Freimuth jahrelang Probleme, trotz 100-Meter-Zeiten von 10,50 Sekunden, im Weitsprung die 7,50-Meter-Marke zu übertreffen.

Sprung-Talent liegt in der Familie

„Schnelligkeit und Weite haben nicht zusammengepasst. Nun hat es endlich Klick gemacht“, sagte sein Vater Uwe Freimuth. Der 55-Jährige kennt sich aus. Schließlich ist er nicht nur promovierter Sportwissenschaftler und beriet als „Entwicklungshelfer“ in Sachen Leichtathletik kleinere Nationen, sondern ist mit 8.792 Punkten der bis heute zweitbeste deutsche Zehnkämpfer aller Zeiten.

Seine Bestleistung erzielte er 1984 in Potsdam nur wenige Wochen vor den vom Ostblock boykottierten Olympischen Spielen in Los Angeles. 7,79 Meter im Weitsprung, 2,03 Meter im Hochsprung und für damalige Verhältnisse überragende 5,15 Meter mit dem Stab – Sergey Bubka hatte kurz zuvor mit 5,85 Metern seinen ersten Weltrekord aufgestellt – erzielte Uwe Freimuth und sammelte so im „Sprung-Dreikampf“ 2.795 Punkte – 142 mehr als der Sohn in Ratingen.

In einigen Disziplinen noch Luft nach oben

Dass es irgendwann bei Rico Freimuth auch mit den Sprüngen klappen musste, war eigentlich vorherbestimmt. Schließlich war nicht nur sein Vater in diesen Disziplinen stark. Das Talent zieht sich durch die ganze Familie. Jörg Freimuth – der Zwillingsbruder seines Vaters – gewann 1980 in Moskau als Teenager mit 2,31 Metern Olympia-Bronze im Hochsprung. Seine Mutter Anke Tröger war 1981 bei den U20-Europameisterschaften in Utrecht im Siebenkampf (Bestleistung: 6.160 Punkte im Jahr 1983) nicht zu schlagen. Eine ihrer besten Disziplinen: der Hochsprung mit 1,81 Metern.

Trotz seiner deutlichen Verbesserung in Ratingen sollen 8.663 Punkte noch lange nicht das Ende der Leistungsskala für Rico Freimuth sein. Beim Kugelstoßen (14,87 m) und über 400 Meter (48,76 sec) blieb noch Luft nach oben. Hätte er früher seinen Frust über die verpassten 15 Meter vielleicht freien Lauf gelassen, reagiert er nun deutlich gelassener auf solche Rückschläge. „Ich werde doch nicht den Konkurrenten meine Gefühle zeigen“, sagte der 29-Jährige.

Nach Eatons Rücktritt fehlt der Überflieger

Auch im Diskuswurf sieht er trotz Bestleistung (51,56 m) noch Potenzial: „Im Training ist es schon weiter als 53 Meter gegangen. Und über 400 Meter ist der Plan, dass es bei der WM in London wieder mit einer 47er-Zeit klappt.“ Das Wort „Medaille“ nahm der 29-Jährige in Ratingen mit Blick auf die WM zwar nicht in den Mund. Doch sei in London „alles möglich“.

Nach dem Rücktritt von Weltrekordler Ashton Eaton (USA) und den Verletzungsproblemen des Olympia-Zweiten Kevin Mayer sind die Karten in London offener denn je. Der Franzose wird bei der WM seinen ersten Zehnkampf seit fast einem Jahr bestreiten. Ob man mit dieser Vorbereitung „König der Athleten“ werden kann, darf zumindest bezweifelt werden. Denn die Grenzbelastung eines Zehnkampfes für Körper und Kopf lässt sich im Training nicht simulieren.

Der große Coup soll 2019 folgen

Dass Rico Freimuth in Ratingen seine Leistungsgrenzen verschieben könnte, wusste Michael Schrader. „Sein Niveau zeigt er jeden Tag im Training“, sagte der nach einer schweren Knieverletzung in der Reha befindliche Vize-Weltmeister von 2013. Damals hatte er in Moskau 8.670 Punkte gesammelt, sieben mehr als sein Kumpel und Trainingspartner in Ratingen. „Ich hätte nichts dagegen gehabt, wenn Rico die Marke geknackt hätte. 5,00 Meter im Stabhochsprung und es wären 8.700 Punkte geworden“, sagte Michael Schrader. Den Zehnkampf in Ratingen verfolgte er ganz dicht dran am Geschehen an der Seite von Ricos Zwillingsbruder Hanno.

Vielleicht wird das Duo Schrader/Freimuth in den kommenden Jahren ja noch den einen oder anderen Wettkampf miteinander bestreiten. Der Ratingen-Sieger plant jedenfalls langfristig: „2019 bin ich bereit für den perfekten Zehnkampf!“ Das klingt nach einer Kampfansage an die Konkurrenz – und nach glühenden Fingern beim Autogramme schreiben.

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