| Rückspiegel

Mein Moment 2018: Die Stille nach dem Showdown

Kaum zu fassen: Das EM-Jahr 2018 ist schon fast Geschichte! So vieles ist passiert in den vergangenen Monaten. Manches scheint schon so weit weg, anderes ist präsent, als wäre es gestern passiert. Wir wollen das Jahresende dazu nutzen, auf Highlights zurückzublicken. Aus einer ganz persönlichen Perspektive, für die in all unseren News und Geschichten bisher kein Platz war. Heute: Der Moment, als die EM Geschichte wurde.
Alexandra Dersch

Es gibt Momente im Leben, die brennen sich tief ins Gedächtnis ein und holen einen unvermittelt wieder ein. Ausgelöst durch ein Lied, einen Geruch oder auch ein anderes Geräusch. Bei mir ist es seit dem 12. August die Stille.

Stille, werden einige unter Ihnen jetzt denken, das ist ja per se etwas Schönes. Stille, wird der ein oder andere aber auch denken, das hat ja auch etwas Bedrohliches. Doch der Stille, die ich meine, wohnte ein gewisser Zauber inne. Denn meine Erinnerung an diese ganz besondere Stille ist seit eben dieser Nacht eng verwoben mit dem Berliner Olympiastadion. Eigentlich ein Widerspruch, denn in dieser nicht nur aufgrund der Temperaturen so unglaublich heißen Augustwoche verwandelte sich das Olympiastadion zu einem Hexenkessel, der an Lautstärke und Intensität auch locker jedes Fußballspiel in der Bundesliga in den Schatten stellte – glauben Sie mir, ich habe einige gesehen.

Das große Nichts

Es muss so kurz vor Mitternacht an eben diesem 12. August, dem letzten Tag der EM, gewesen sein, als ich meinen Laptop knapp unterm Dach des Olympiastadions zuschnappen ließ. Der letzte Satz geschrieben. Das letzte Video-Interview geführt. Den letzten Beitrag über unsere Social Media Kanäle gejagt. Klack – sagte mein Rechner, als der Schließmechanismus einrastete. Und plötzlich war da: nichts.

Dort, wo an diesem Abend noch Hochspringer Mateusz Przybylko (TSV Bayer 04 Leverkusen) ein verschämtes Tränchen beim Erklingen der Nationalhymne verdrückt hatte – nichts. Dort, wo vorher noch 42.350 Zuschauer Gesa Krause (Silvesterlauf Trier) zu ihrem zweiten EM-Titel über die Hindernisse gebrüllt hatten – nichts. Dort, wo vorher noch unzählige Journalisten Jubelzeilen über die vielleicht stimmungsvollste EM aller Zeiten in ihre Laptops gehackt hatten – nichts. Nur ganz tief unten auf der blauen Bahn, wo ich mit unserem Berliner leichtathletik.de-Team noch schnell, da unter harschem Protest der Sicherheitschefs, ein kleines Erinnerungsbild geschossen hatte, da wuselten ein paar Gestalten, zogen Strippen, hängten die ersten Banden ab. Die Europameisterschaften 2018 – sie waren schon in diesem Moment Geschichte.

EM-Blues unterm Stadiondach

Die Stille nach dem Showdown – sie war vielleicht vergleichbar mit dem Gefühl, das ein Taucher haben muss, wenn er nach seiner Unterwasserexpedition wieder an der Oberfläche auftaucht. Vergleichbar mit der Leere, von der manch' befreundete Brautpaare – okay, Sie haben Recht, es sind tatsächlich eher die Bräute – erzählten, die so lange auf diesen einen Moment gewartet, so viele Stunden vorbereitet hatten und sich dann nach dem „Ja“ und dem anschließenden Tamtam fragten: Und jetzt? Die Psychologie hat sogar einen Begriff für dieses Phänomen: Hochzeits-Blues.

War es bei mir also der EM-Blues, der mich da oben auf der Pressetribüne erwischte? Vielleicht. Vielleicht war es aber auch der erste stille Moment dieser so treibenden EM, in dem mein Geist hinter dem Erlebten des Körpers nachkam. So viele Gespräche hatte ich geführt, so viele Emotionen von Athleten erlebt und eingefangen, dass mich diese Gefühle da oben vor meinem zugeklappten Laptop nun schier selbst einzuholen schienen.

Herzblut gut investiert

Diese Stille – sie hatte vielleicht auch diesen Effekt, weil sie im absoluten Kontrast zum Erlebten der Vortage stand. Was ließ diese EM unseren Puls hochschnellen. Mit ihrem leichtathletikverliebten Publikum – insgesamt 360.000 Menschen kamen während der EM ins Olympiastadion. Mit ihrem furchtlosen und vorreiterhaften Organisationsteam um Geschäftsführer Frank Kowalski, deren vielleicht größte Errungenschaft es war, einen revolutionären Zeitplan auf die Beine zu stellen, der peitschend in seiner Dramaturgie dem Zuschauer ein Highlight nach dem nächsten präsentierte. Und mit ihren Protagonisten, den sportlichen Helden, den Athleten, die durch ihre Natürlichkeit, ihre Fairness und ihre pure Freude am Sport ein Bild von der Leichtathletik prägten, das der Grundstein dafür sein kann, dass Kinder und Jugendliche ab sofort und lang anhaltend wieder verstärkt diese, unsere Sportart als ihre Sportart wählen. Eben weil Leichtathletik wieder in ist, wieder sexy, wieder cool, wenn das die Jugend von heute überhaupt noch sagt…

Dass auch das Medien-Echo entsprechend enthusiastisch, ja gar euphorisch ausfiel – es war der Beweis, dass das Herzblut, dass diese EM zum Leben erweckte, gut investiert war. Es war das Herzblut von gefühlt ganz Leichtathletik-Deutschland. Das der Athleten. Das des schon angesprochenen Teams der BEM 2018. Das der Mitarbeiter im Deutschen Leichtathletik-Verband und seiner Marketing-Tochter DLM. Das der vielen Volunteers. Sie alle haben, vielleicht auch teils über Gebühr, in diese EM investiert. Liebe, Leidenschaft, Herzblut eben. Während der Titelkämpfe, aber auch ein Großteil bereits lange bevor diese Europameisterschaften überhaupt in der öffentlichen Wahrnehmung eine Rolle spielten. Es war jeden Tropfen wert.

Irgendwann, es mag kurz nach Mitternacht gewesen sein, habe ich mich losgerissen von dem Anblick des stillen und auch in diesem Zustand so wunderschönen Olympiastadions. Packte den Laptop in die Tasche. Kletterte ein letztes Mal die steilen Stadiontreppen hinab. „Tschüss.“ Sagte der Sicherheitsmann beim Verlassen des Stadions. „Bis zum nächsten Mal.“ Antwortete ich.

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