Im blauen Trikot des TV Wattenscheid 01 schrieb Julian Reus deutsche Sprint-Geschichte. Nun verliert der Verein einen seiner Leistungsträger. Der Deutsche Rekordhalter über 60 und 100 Meter wird ab 1. Januar 2018 für das LAC Erfurt Top Team starten. Wie es zu dieser Entscheidung kam, welche Ziele der "Vollzeit-Erfurter" im EM-Jahr 2018 verfolgt und wie er den Alltag mit Kind meistert, erzählt der Sprinter im Interview.
Julian Reus, wer hat beim Vereinswechsel entschieden – Herz oder Bauch?
Julian Reus:
Im Endeffekt war es das Gesamtpaket. Wenn das Herz entscheidet, dann hat der Bauch grundsätzlich keine Chance (lacht). Bei mir ist es noch der Kopf, der eine Rolle spielt. Aber das ist das, was mir wiederum schwer gefallen ist. Ich blicke auf eine schöne und erfolgreiche Zeit für Wattenscheid zurück. Ich hatte Top-Rahmenbedingungen, aber am Ende will man für die Stadt starten, in der man lebt und sich jeden Tag aufhält.
Wie lange hat dieser Prozess gedauert, bis Sie sich für das LAC Erfurt Top Team entschieden haben?
Julian Reus:
Wenn man in das erste Gespräch geht, muss man sich in gewisser Weise damit auseinandersetzen, was ist wenn? Mir war klar, ich möchte diesen Schritt gehen. Aber nur dann, wenn die Rahmenbedingungen, die man für sich braucht, geschaffen werden. Natürlich braucht es eine gewisse Zeit, bis der Verein sie umgesetzt hat. Es ist ein junger, wachsender Verein, den es erst seit zwei Jahren wieder gibt. Das ist normal und seriös, dass gewisse Dinge etwas länger dauern. Als ich wusste, es passt alles, habe ich mich relativ schnell für einen Wechsel entscheiden.
Sie leben und trainieren in Erfurt. Im Zusammenhang mit Ihrem Wechsel zum LAC Erfurt TopTeam war zu lesen, dass Sie nun "Vollzeit-Erfurter" sind...
Julian Reus:
Wenn ich es auf den Verein beziehe, dann trifft es voll und ganz zu. Seit ich vor 18 Jahren nach Erfurt gekommen bin, bin ich hier Jahr für Jahr heimischer geworden. Der Vereinswechsel rundet das Ganze noch ab. Für mich ist es eine Herzens-Angelegenheit wieder für Erfurt an den Start gehen zu können – und einfach der Region, der Stadt und dem Verein etwas zurückzugeben, von dem man jahrelang profitiert hat.
Sie haben für den TV Wattenscheid 01 tolle Erfolge feiern dürfen. Daran wollen Sie mit Sicherheit auch im neuen Trikot anknüpfen?
Julian Reus:
Ich sehe es als Chance, sich selbst neu zu beweisen. Das ist mein Ziel, für das ich hart arbeiten muss. Dafür investiert man viel ins Training. Wenn ich gesund bleibe, dann bin ich überzeugt davon, dass ich in den nächsten Jahre auch im neuen Trikot Erfolge feiern werde.
Letzte Wintersaison mussten Sie auf Starts unterm Hallendach verzichten. Wie sieht es im kommenden Jahr aus?
Julian Reus:
Ich werde in der Halle starten. Es war damals auf Grund des Bundeswehrlehrgangs einfach nicht machbar. Wenn man in einem Trainingssystem trainiert, mit dem man wenig Erfahrung hat, ist es nicht einfach. Wir haben das Bestmögliche rausgeholt. In den Vorjahren habe ich stets von einer guten Hallensaison profitiert – daran will ich wieder anknüpfen. Einen Fahrplan für die Halle gibt es noch nicht. Ich werde irgendwann Mitte, Ende Januar in die Saison einsteigen. Ich will mich noch auf kein Datum und keinen Wettkampf festlegen.
Ist die Hallen-WM im März in Birmingham ein Thema für Sie?
Julian Reus:
Absolut. Die Weltmeisterschaft liegt vom Datum her gut. Die WM ist in Europa und von daher passt sie gut in unseren Plan.
Bevor Sie in Birmingham starten, sind Quali-Normen zu erfüllen. Reine Formsache, möchte man bei Ihnen meinen, aber eine Selbstverständlichkeit ist eine Normerfüllung trotzdem nicht.
Julian Reus:
Wir müssen die Normen auch erstmal laufen. Mein Trainer sagt immer so schön, es geht immer wieder bei Null los. Das Training läuft seit zwei Wochen, der harte Herbst hat begonnen. Für November und Dezember stehen zwei Trainingslager auf Teneriffa an. Ich werde in den kommenden Wochen im Training sowie in den Trainingsmaßnahmen alles geben und investieren, um in Richtung der Höhepunkte wie der Heim-EM in Berlin topfit zu sein.
Mit welchen Zielen starten Sie in das EM-Jahr 2018?
Julian Reus:
Ich will meine Bestzeiten über 60, 100 und 200 Meter steigern.
Zugleich sind Sie eines der Gesichter der Heim-EM in Berlin. Wie sehen Sie Ihre Rolle?
Julian Reus:
Es ist auf der einen Seite Anerkennung, auf der anderen Seite Motivation, vor heimischem Publikum, wenn die Leute einen über die Werbung schon kennen, Erfolge zu feiern. Das ist Motivation pur und zugleich Anerkennung für die Arbeit und die Leistung, die man in den vergangenen Jahren in den Sport gesteckt hat. Das ist ein absolut schönes Gefühl.
Zu wie viel Prozent ist Erfolg in der Leichtathletik Kopfsache, wie viel macht Talent aus?
Julian Reus:
Ob Kopf oder Talent, es sind einfach viel mehr Faktoren, die eine Rolle spielen. Sei es das familiäre Umfeld, der Trainer, das Training, die Motivation, der Wille, der Kopf oder das Talent. Um international erfolgreich zu sein, um schnell laufen zu können, müssen einfach alle Faktoren stimmen. Wenn einer dieser Faktoren beziehungsweise ein Baustein nicht funktioniert, dann wird es schwer.
Sie haben als erfolgreicher Sprinter auch eine Vorbildfunktion. Gerade gegenüber den jüngeren Athleten aus Erfurt wie Julian Wagner oder Luis Brandner, mit denen Sie eine Trainingsgruppe bilden.
Julian Reus:
Ich versuche den Jungs von meinen Erfahrungen und meinem sportlichen Leben Dinge mitzugeben, die ich als wichtig empfinde. Das ist vielleicht nicht immer angenehm. Im Sport geht es nicht darum angenehm zu sein, sondern besser zu werden. Ich bemühe mich, das Beste für die Jungs im Auge zu haben, wenn ich ihnen Tipps, Vorschläge und Verbesserungen gebe. Mit meinem Dasein in der Gruppe hoffe ich, ein Zeichen gesetzt zu haben und zu zeigen, dass man als Erwachsener Hochleistungssport und Profisport in Erfurt betreiben kann.
Wer war für Sie als junger Sportler ein Vorbild?
Julian Reus:
Ich hatte keine Vorbilder. Ich weiß nicht warum. Zugleich bin ich auch froh darüber. Wenn man in die Vergangenheit schaut und hätte sich das falsche Vorbild ausgesucht, dann wäre man vielleicht bitter enttäuscht worden. Ich schaue eher auf mich, wie kann ich besser werden.
Umgekehrt sind Sie aber Vorbild für jüngere Athleten...
Julian Reus:
Ich versuche so zu sein, wie ich bin. Es ist schön, wenn man Kinder dazu bringt, zum Sport zu gehen und sie zu einem aufschauen. Ich gebe mein Bestes dahingehend, wenn ich in der Halle bin, dass ich mich professionell verhalte, freundlich bin und die Kinder sehen, dass man mit harter Arbeit Erfolg haben kann. Genauso wichtig erscheint mir es, Sport zu machen, unabhängig vom Erfolg. Sport bringt mehr für das Leben als immer nur diesen Erfolg, er gibt mehr als ausschließlich Siege. Er formt einen und ist eine gewisse Lebensschule für die berufliche Zukunft wie Studium und Ausbildung. Das versuche ich beim Sport in der Halle, im Stadion zu transportieren.
In einem Fragebogen von leichtathletik.de wurden Sie vor fünf Jahren gefragt: Welchen Traum möchten Sie einmal leben? Können Sie sich noch an ihre Antwort erinnern?
Julian Reus:
Das ist zu lange her. Erinnern kann ich mich daran nicht mehr.
Sie antworteten ganz klassisch: Frau, Kinder, Haus.
Julian Reus:
Da habe ich zwei Sachen schön erfüllt (lacht).
Da fehlt nur noch das Haus...
Julian Reus:
Wir sind erst kürzlich in eine schöne Wohnung umgezogen. Ich würde sagen, es sind zweieinhalb Sachen erfüllt.
Ein Hausbau ist in der momentanen Situation also nicht vorstellbar?
Julian Reus:
Das kostet zu viel Energie. Wir sind aktuell, wo und wie wir wohnen, absolut glücklich. Ein paar Ziele braucht man auch noch.
Der Hausbau kommt dann nach der sportlichen Karriere.
Julian Reus:
Genau (lacht).
Sie sind seit vier Monaten Vater eine Tochter.
Julian Reus:
Das ist ein schönes Gefühl. Meine Frau hält mir den Rücken frei. Gerade nachts, wenn die Kleine unruhig wird. Grundsätzlich sind wir mit ihr gesegnet, weil sie nicht so quengelig ist. Im Hochleistungssport muss man alle Kräfte sammeln, die man hat. Ich kann mich voll und ganz auf den Sport konzentrieren, weil mir meine Frau und die Familie den Rücken freihalten. Noch dazu gibt es einfach nichts Schöneres, als wenn ich vom Training nach Hause komme oder morgens aufwache und ein strahlendes Kind mich anschaut. Das gibt mir noch mal die Extra-Energie.
Wie hat Sie das Leben als Papa verändert?
Julian Reus:
Das ist jetzt nicht negativ gemeint: Es hat sich wenig verändert. Natürlich schränkt einen das Kind in ein, zwei Geschichten ein, aber wir versuchen trotzdem, uns um Familie und Freunde zu kümmern. Einfach so weiterzuleben, wie wir es vorher schon getan haben – nur jetzt mit dem feinen Unterschied, dass wir eine wunderschöne Begleitung haben. Es ist dann einfach so, dass Dinge mit Kind vielleicht etwas länger dauern, wir sie manchmal abbrechen müssen oder nicht umsetzen können.
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