Von 6,83 auf 6,57 Sekunden. Heiko Gussmann vom Sprintteam Wetzlar ist der Aufsteiger des Winters auf den 60 Metern. Der 20-Jährige hat hohe Ziele.
Kurz nach dem Gespräch mit den Medienvertretern reiht sich Heiko Gussmann hinter Rebekka Haase am Mundloch zum Innenraum der Uber Arena ein. Siegerehrung beim ISTAF Indoor in Berlin, 12.100 Zuschauer sorgen für eine außergewöhnliche Stimmung am späten Freitagabend. Gerade ist Armand Duplantis (Schweden) noch mit dem Stab über 6,10 Meter geflogen, hat die Halle zum Kochen gebracht. „Der erste Sieg beim ISTAF Indoor, über 60 Meter war er heute nicht zu stoppen. Heiiiiko Gussmannnn“, ruft der Stadionsprecher ins Mikrofon. Begleitet von Pyrotechnik joggt der 20-Jährige unter tosendem Applaus in die Halle, winkt, klatscht mit Berlino ab und nimmt seinen Preis aus den Händen von Meetingdirektor Martin Seeber entgegen.
Ein ganz neues Gefühl für den Youngster. Am nächsten Tag wird in den Medien vom „Überraschungssieg“ die Rede sein. 6,57 Sekunden, den Deutschen Rekordhalter Kevin Kranz und den Medaillengewinner mit der 4x100-Meter-Staffel von den Olympischen Spielen Akani Simbine aus Südafrika im Fotofinish hinter sich gelassen. „Es fühlt sich sehr gut an“, hat Heiko Gussmann wenige Momente zuvor in der Mixed Zone gesagt. Schüchtern, zurückhaltend, ohne große Euphorie in seinen Worten, die er relativ leise ausspricht. Er ist keiner, der extrovertiert daherkommt. Eher der Coole, der mit jugendlicher Unbekümmertheit die Arrivierten hinter sich gelassen hat. Der vielleicht von der Charity-Aktion Movember übrig gebliebene Schnauzer trägt durchaus dazu bei.
Kurz nach der Siegerehrung, die Uber Arena leert sich, genießt er den Moment inmitten der anderen Siegerinnen und Sieger, unterhält sich mit Vereinskollegin Rebekka Haase. Erster Platz beim ISTAF Indoor in Berlin – es ist der erste große Sieg für den 20-Jährigen, der in dieser Hallensaison sage und schreibe 26 Hundertstelsekunden von seiner Bestzeit über 60 Meter weggenommen hat. Das soll aber noch nicht das Ende der Fahnenstange gewesen sein.
Staffel-Bronze weckt den Ehrgeiz
Es ist nicht so, als käme Heiko Gussmann wie Kai aus der Kiste. Im Jahr 2023 wird er in Rostock Zweiter bei der Deutschen U20-Meisterschaft über 100 Meter, bestätigt damit seine Platzierung aus der Halle über 60 Meter, steigert sich in Regensburg auf 10,34 Sekunden und darf international starten. „Dieser dritte Platz bei der U20-EM in Jerusalem über die 4x100 Meter war bisher der Höhepunkt meiner Karriere“, erzählt er. Knapp sei es gewesen beim Wechsel auf Vincent Herbst. Aber nicht zu knapp. Hinter der Schweiz und den Niederlanden läuft das deutsche Team auf dem Bronzerang ein. Eine wunderbare Entschädigung für Heiko Gussmann, der bis dahin international zwei kleine Rückschläge zu verkraften hatte. Ein Jahr zuvor, bei der U20-WM in Kolumbien, scheidet die Staffel nach einem Wechselfehler aus; in Jerusalem verpasst er um eine Winzigkeit das Weiterkommen über 100 Meter.
Diese EM in Israel ist für Heiko Gussmann eine Zäsur. Der in Karlsruhe aufgewachsene Sprinter entscheidet sich, neue Wege zu gehen. Er zieht nach Frankfurt, wechselt zur Saison 2024 in die Trainingsgruppe von David Corell und schließt sich dem Sprintteam Wetzlar an. Neue Vereins- und überwiegend auch Trainingskollegen sind nun die Olympiamedaillengewinnerinnen Rebekka Haase, Lisa Mayer und Sophia Junk sowie Kevin Kranz. Vorbei die Zeit, als er der Schnellste auf dem Platz war; zuvor hatte er bei Udo Metzler in einer Gruppe um die Weitspringerin Mikaelle Assani trainiert. „Das Niveau ist definitiv höher als zuvor. Davon profitieren wir alle“, sagt der Kaderathlet, der einst in Karlsruhe durch einen Schulwettkampf zur Leichtathletik gekommen war und im Anschluss beim Hallenmeeting in der Messehalle erstmals Profileichtathletikluft schnupperte.
Trainingsumstellung braucht Zeit
Auch wenn er immerhin Dritter bei den Deutschen U23-Meisterschaften über 100 Meter wird, im Jahr 2024 gibt es „nur“ eine Steigerung auf niedrigem Niveau über 200 Meter auf 21,51 Sekunden zu vermelden. „Ich musste mich erst an das neue Training gewöhnen. Ich trainiere seither nicht unbedingt öfter, die Einheiten sind jedoch gelegentlich länger“, berichtet der 20-Jährige aus dem Trainingsalltag in der Mainmetropole. Kollege Kevin Kranz hat unterdessen festgestellt, dass „Heiko an Masse zugelegt und mehr Power hat“.
Die Umstellung trage nun in der zweiten „Frankfurter“ Saison Früchte. Heiko Gussmann holt sich bei seinem Saisoneinstieg direkt die Hessische Meisterschaft, schlägt Kevin Kranz und schraubt seine Bestzeit über 60 Meter auf 6,58 Sekunden herunter. Das ist exakt eine Viertelsekunde schneller, als er zuvor jemals gelaufen ist. Dazu hat er die Norm für die Hallen-EM-Norm geknackt. Kevin Kranz hat „hier schon gesehen, dass Heiko noch schneller laufen kann. Das hat sich auch im Training angedeutet. Er fliegt über die Bahn“. Und erinnert damit an Kranz selbst, der auch als recht schmächtiger Athlet einst zu David Corell gewechselt war und danach die Leistungskurve deutlich nach oben ausrichtete.
Sechs Tage nach den „Hessischen“ gewinnt Heiko Gussmann auch beim Meeting in Erfurt, ehe er sich beim ISTAF Indoor ebenso die heiß begehrte Siegertrophäe abholt – nach zwei Rennen in der neuen persönlichen Bestzeit von 6,57 Sekunden. Nach den neuen U23-Rekordlisten des Europäischen Leichtathletik-Verbandes wird diese Zeit nun auch als Bestmarke geführt – auch wenn U23-Athleten schon schneller waren, unter anderem der ehemalige Deutsche Rekordhalter über 60 Meter Sven Matthes vor 37 Jahren. „Ein schöner Nebeneffekt, aber mein Fokus liegt auf den 100 Metern“, sagt Heiko Gussmann, der noch auf der Suche nach einem Unternehmen ist, bei dem er Leistungssport und beruflichen Werdegang verbinden kann.
Hallensaison als Zwischenstation
Die anstehenden Hallenhöhepunkte wie die Deutsche Meisterschaft in Dortmund an diesem Wochenende, bei denen Kevin Kranz erstmals nach seinem deutschen Rekord von 2021 wieder in die Helmut-Körnig-Halle zurückkehrt und sicherlich nicht nur seinem Trainingskollegen mal wieder die Fersen zeigen möchte („Schön, dass einer aus den eigenen Reihen vorne mitmischt“), sind also für Heiko Gussmann nur eine Zwischenstation zu höheren Zielen. „Ich möchte unter 10,2 Sekunden laufen“, sagt er selbstbewusst. Helfen wird ihm dabei sicherlich Trainer David Corell, der unter anderem auch aus Kevin Kranz einen Sprinter von deutschem Spitzenformat geformt hat.
„Davids Qualitäten sind sicherlich nicht nur auf fachlicher, sondern insbesondere auf menschlicher Seite“, sagt Heiko Gussmann. „Er kümmert sich sehr fürsorglich um uns, ruft an, fragt, wie es uns geht und wie wir die vergangenen Einheiten verkraftet haben.“ Für den schüchtern wirkenden Youngster aus Baden-Baden, der im März 21 Jahre alt wird, sicherlich eine wichtige Komponente, um erfolgreich zu sein.
Wie erfolgreich, darauf darf man sicherlich nach den jüngsten Auftritten von ihm gespannt sein. Als 20-Jähriger das zuschauerträchtigste Hallenmeeting der Welt zu gewinnen und namhafte Konkurrenz zu schlagen, ist sicherlich ein Statement.