Zum Ende der Olympiasaison 2024 geht auch eine große deutsche Dreisprung-Karriere zu Ende: Mit der Deutschen Rekordhalterin Kristin Gierisch verabschiedet sich die beste deutsche Dreispringerin der Geschichte. Die Vorfreude auf den nächsten Lebensabschnitt ist groß – ihren Traumjob hat die 34-Jährige längst gefunden.
Kristin Gierisch kämpft sich im Schneckentempo durch den Berliner Verkehr, während sie am Tag ihres 34. Geburtstags am Telefon 22 Jahre Leistungssport Revue passieren lässt. Sie klingt gelassen, voller Vorfreude auf das, was kommt – und im Reinen mit der Entscheidung, einen Schlussstrich unter ihre Dreisprung-Karriere zu setzen. „Ich habe keinen Abschiedsschmerz. Ich habe mehr erreicht, als ich mir je hätte träumen können. Und es war für mich von vornherein klar, dass das meine letzte Saison sein wird.“
Nicht alle Träume haben sich in dieser letzten Saison erfüllt. Die dritte Olympia-Teilnahme verpasste die 34-Jährige ebenso wie zuvor in Braunschweig die dritten Deutschen Meisterschaften in Folge. Immer häufiger verhinderten zuletzt Schmerzen den perfekten Hop, Step und Jump.
Und dennoch hielt 2024 einen letzten sehr emotionalen sportlichen Erfolg für Kristin Gierisch bereit, der stellvertretend steht für ihren Kampfgeist und ihre Wettkampfstärke: An der Seite ihres Heim- und Bundestrainers Charles Friedek, der sie in den letzten Jahren ihrer Karriere beim TSV Bayer 04 Leverkusen begleitete, schaffte sie in Rom (Italien) zum vierten Mal den Sprung in ein EM-Finale. Mit 13,91 Metern kratzte sie dabei ein letztes Mal an der 14-Meter-Marke.
Früher Erfolg ohne Verzicht
15 Jahre ist es her, dass Kristin Gierisch diese Marke zum ersten Mal überbieten konnte. 14,02 Meter. Im Alter von 18 Jahren – noch immer deutscher U20-Rekord. „Damals war mir gar nicht bewusst, was ich da geleistet habe“, blickt sie zurück. Unter Druck gesetzt habe sie dieser Sprung nicht, denn entsprechend einordnen konnte sie ihn erst Jahre später, nachdem für alle ihre Nachfolgerinnen in der U20 diese Marke außer Reichweite blieb. „In solchen Momenten wird einem bewusst, was für eine krasse Leistung das war.“
Während sie anderthalb Jahre darauf auch in der Halle ihren ersten 14-Meter-Sprung zeigen konnte, sollte es fünf Jahre dauern, bis im Freien wieder die 14 vor dem Komma stand. „Mit Anfang 20 bin ich dieser Weite etwas hinterhergerannt“, blickt Kristin Gierisch zurück und erklärt lachend: „Ich war eine Rebellin, ich habe damals alles mitgenommen, was ging – war trotz Leistungssport auf Partys und habe meine Jugend genossen.“
Drei internationale Medaillen, zwei deutsche Rekorde
Mit ihrem ersten von vier deutschen Freiluft-Titeln und windunterstützten 14,34 Metern begannen 2014 in Ulm die erfolgreichsten Jahre in der Karriere von Kristin Gierisch, die sie im Trikot des LAC Erdgas Chemnitz in der Trainingsgruppe von Harry Marusch bestritt. In Zürich (Schweiz) stand sie damals als EM-Neunte erstmals in einem internationalen Finale, gefolgt 2015 von Platz acht bei der WM in Peking (China).
Das Olympia-Jahr 2016 brachte Kristin Gierisch ihre erste internationale Medaille: Silber bei der Hallen-WM in Portland (USA). 2017 wurde die Dreispringerin in Belgrad (Serbien) Hallen-Europameisterin, 2018 bei der Heim-EM in Berlin Vize-Europameisterin – ihr schönster und emotionalster Erfolg. Im Jahr darauf holte sie sich mit 14,59 Metern in der Halle und 14,61 Metern im Freien beide deutsche Rekorde. Darüber hinaus schaffte sie es 2016 in Rio ins Olympia-Finale und 2017 bei der WM in London (Großbritannien) bis auf Platz fünf.
Zwischen Euphorie und Selbstzweifeln
„Dieser Status, den man sich erarbeitet hat. Dieser Moment, wenn man auf dem Platz steht und alle jubeln. Diese Atmosphäre – das alles werde ich nie vergessen!“ sagt Kristin Gierisch. Aber auch: „Die meisten sehen nur den Wettkampf. Der ist das Ergebnis von 15, 20, 25 Wochen Arbeit. In diesem Prozess habe ich sehr oft gedacht: Ich kann nicht mehr. Ich hatte oft Selbstzweifel. Wenn es gut läuft, ist es immer geil. Aber wenn nicht, dann blamierst du dich im schlimmsten Fall sechs Mal.“
So schreibt Kristin Gierisch ihre Erfolge auch den Menschen zu, die sie im Verlaufe ihrer Karriere begleitet und unterstützt haben. Auf mentaler Ebene ganz besonders DLV-Psychologin Tanja Damaske: „Mir ging’s so schlecht vor Portland 2016 und auch vor der Hallen-EM 2017. Ich wollte eigentlich schon absagen vorher. Die zwei Medaillen gehen auf jeden Fall auf ihre Rechnung.“
Im Moment ihres Abschieds denkt Kristin Gierisch zudem an ihre allererste Trainerin Angela Geyer zurück. Unter ihrer Anleitung hatte sie einst beim SV Vorwärts Zwickau die ersten Schritte in der Leichtathletik gemacht. „Sie hat damals den Kopf für mich hingehalten und durchgesetzt, dass ich mit 12 auf die Sportschule nach Chemnitz gekommen bin“, erinnert sich Kristin Gierisch.
„Höre auf deinen Bauch“
Den Mut zur Veränderung brachte Kristin Gierisch damals schon in jungen Jahren auf. Später fehlte ihr dieser in entscheidenden Phasen in ihrer Karriere. Daher lautet ihr Rat an ihre Nachfolgerinnen im deutschen Dreisprung: „Höre auf deinen Bauch! Wenn man merkt, dass man eine Veränderung braucht, dann sollte man mutig sein und diesen Schritt gehen. Rückblickend habe ich so oft festgestellt, dass mein Bauchgefühl richtig gewesen ist.“
Und so beginnt dann auch ihr Abschied vom Leistungssport mit einem Neu-Anfang: Während sich das deutsche Olympia-Team auf den Start in Paris vorbereitet hat, ist Kristin Gierisch Ende Juli von Leverkusen nach Berlin gezogen. Dort startet sie in die Karriere nach der Karriere: Am 1. Oktober nimmt Oberkommissarin Kristin Gierisch auf einer Inspektion in Berlin ihre Tätigkeit im Innendienst auf.
Während viele Leistungssportler im Verlaufe ihrer Sportkarriere die beruflichen Ziele hintenanstellen müssen, hat Kristin Gierisch der Sport den Weg zu ihrem Traumberuf geebnet – und das schon 2012 mit dem Start der Ausbildung bei der Bundespolizei: „Ich wollte immer Polizistin werden!“ sagt sie. „Kennst du diese Freundschaftsbüchlein? Da habe ich das schon als Kind reingeschrieben.“ Und so ist der Schritt in den neuen Lebensabschnitt begleitet von vielen positiven Emotionen: „Ich freue mich auf eine neue Stadt, auf geregelte Arbeitszeiten. Auf ein ganz normales Leben!“