Bei der Hallen-DM in Leipzig haben sechs Athletinnen und Athleten erstmals einen Titel auf nationaler Ebene gewonnen. Wir stellen sie vor. Heute: Hürdensprinterin Rosina Schneider (TV Sulz).
Rosina Schneider
TV Sulz
Bestleistungen:
100 Meter: 11,42 sec (2023)
100 Meter Hürden: 13,06 sec (2023)
Erfolge:
U20-Europameisterin 2023 (Hürdensprint & Staffel)
Deutsche Hallenmeisterin 2024
In den vergangenen beiden Jahren hat sie einen Aufstieg hingelegt, bei dem einem schwindelig werden kann. Rosina Schneider aber bleibt fokussiert und wächst trotz der atemberaubenden Geschwindigkeit ihrer Entwicklung Stück für Stück weiter in den Leistungssport hinein. Rückblick: Vor genau zwei Jahren startete die 19-Jährige nach einer schweren Verletzung und einem Wechsel des Trainingsstandorts mit Bestleistungen von 12,19 Sekunden über 100 Meter, 25,09 Sekunden über 200 Meter und 14,69 Sekunden über 100 Meter Hürden in die Freiluftsaison 2022. Vorlauf-Teilnahmen bei der Jugend-DM waren zu diesem Zeitpunkt ihre größten Erfolge.
Heute hat sie zwei U20-EM-Titel und einen DM-Sieg in der Frauenklasse auf dem Konto. Und außerdem eine „Besichtigungs- und Trainingsreise“ in die Olympia-Stadt von 2028 Los Angeles (USA) sowie nach Jamaika zur Sprint-Legende und zehnfachen Weltmeisterin Shelly-Ann Fraser-Pryce hinter sich. Erklärtes Ziel sind der Anschluss an die internationale Klasse und die Olympia-Teilnahme in vier Jahren. Die Athletin vom TV Sulz ist plötzlich mittendrin im Leistungssport.
„Das ging alles ganz schön schnell und ich hätte nie damit gerechnet. Umso dankbarer bin ich dafür, dass es so gekommen ist“, erzählt die Senkrechtstarterin, der ihre Leistung auch auf immer größer werdender Bühne abruft. Wie hat sie das alles in so kurzer Zeit geschafft?
Spielerischer Start ohne Gedanken an Leistungssport
Rosina Schneider ist im beschaulichen Empfingen-Wiesenstetten in Baden-Württemberg aufgewachsen, wo sie bis heute bei Heimatbesuchen noch immer gut zur Ruhe kommt. Für ihren Vater als Sportlehrer und ihre Mutter als Turnerin waren Sport und Bewegung ein fester Bestandteil des Alltags und so ging auch Tochter Rosina früh zum Kinderturnen und Handballtraining. In der Grundschule fiel außerdem ihre Schnelligkeit auf, sie rannte sogar den Jungs davon. So probierte die damals Achtjährige auch Leichtathletik-Training beim TV Sulz aus. Unter Trainer Jürgen Kurtz standen alle Disziplinen auf dem Programm, Sprinten war aber von Anfang an die Stärke der jungen Athletin.
In der Altersklasse U16 übernahm Norbert Burkhardt die Betreuung, spielerische Elemente im Training wurden weniger und das Training zielgerichteter. Dass einmal eine Karriere im Leistungssport möglich werden könnte, zeichnete sich aber noch nicht ab. „Das kam bei mir alles schleichend. Ich habe nicht von Olympia geträumt, als ich mit Leichtathletik begonnen habe, und mir deshalb auch überhaupt keinen Druck oder Gedanken in diese Richtung gemacht.“ Eine Steigerung innerhalb eines Jahres von 13,44 Sekunden über 100 Meter auf 12,53 Sekunden brachte die damalige W15-Athletin 2019 auf Platz zwei bei den württembergischen Meisterschaften und in den Landeskader.
Im ersten U18-Jahr gelang mit weiteren Steigerungen auf 12,19 Sekunden über 100 Meter und 25,09 Sekunden über 200 Meter die Qualifikation für die erste Teilnahme an Deutschen Jugendmeisterschaften. „Zu diesem Zeitpunkt bin ich schon ein bis zwei Mal pro Woche zum Landeskader-Training nach Stuttgart gependelt“, erzählt die heutige Deutsche Hallenmeisterin, für die sich auch die Option eröffnete, aufs Sportinternat dort zu wechseln.
Muskelbündelriss, Standortwechsel und Aufstieg
Bevor sie diesen Schritt ging, zog sich Rosina Schneider allerdings eine schwere Verletzung zu. Eine Ursache dafür sieht sie in den durch Corona eingeschränkten Trainingsmöglichkeiten. Einheiten mussten in den Wald verlegt werden, der komplette Alltag wurde durch die Pandemie durcheinandergebracht. Im Februar 2021 zog sich die damals 16-Jährige einen elf Zentimeter langen Muskelbündelriss im vorderen Oberschenkel zu. Anderthalb Jahre lang waren keine Wettkämpfe möglich. „Bei meinen Terminen bei der Physiotherapie ist die zurückgebliebene Narbe noch Thema. Aber ich habe keine Schmerzen mehr.“
Die Rückkehr ins Training verband die damalige Schülerin im Herbst 2021 mit dem Wechsel aufs Sportgymnasium am Olympiastützpunkt Stuttgart. Die frühere Sprinterin und heutige Landestrainerin Cathleen Tschirch übernahm federführend das Training. In die Betreuung eingebunden ist bis heute ein ganzes Team, jeweils mit Experten für Technik, Krafttraining oder medizinische Begleitung. Diese Professionalisierung setzte einen regelrechten Transformationsprozess der jungen Athletin in Gang.
Der zeigte sich erstmals Ende Mai 2022, als endlich wieder ein Rennen möglich war. Auf der Bahn stand plötzlich eine deutlich leistungsstärkere Athletin. Gleich beim ersten Start nach der langen Verletzungspause in Besigheim sprintete die zu diesem Zeitpunkt 17-Jährige in 11,74 Sekunden in die DLV-Spitze der U20. Die 100 Meter Hürden absolvierte sie an diesem Tag in 14,10 Sekunden. Ebenfalls ein Quantensprung. Die Bestleistung über die U18-Hürde hatte bei 14,69 Sekunden gestanden. Dabei waren die Hürden unter der Anleitung von Aleksandra Gacic zu diesem Zeitpunkt eher eine Ergänzung zum Sprinttraining. „Um die Koordination zu schulen und davon im Flachsprint zu profitieren.“
Zwei Jahre wie vom anderen Stern
Was folgte, war ein Durchmarsch im Schnelldurchlauf, der bis heute nicht zu Ende gegangen ist. In Ulm sicherte sich Rosina Schneider im Sommer 2022 über 100 Meter in 11,56 Sekunden ihren ersten Titel bei einer Jugend-DM. Beim ersten Einsatz im Nationaltrikot bei der U20-WM in Cali (Kolumbien) bestätigte sie ihr neues Niveau mit 11,61 Sekunden in Vorlauf und Halbfinale. Die Premiere auf internationaler Bühne und die erste sportliche Fernreise waren ein voller Erfolg.
Im zweiten U20-Jahr setzte sich der kometenhafte Aufstieg fort. Los ging es mit Doppelgold bei der Jugend-Hallen-DM in Dortmund über 60 Meter Hürden (8,34 sec) und 200 Meter (23,70 sec). Im Freien lief es dann über die Hürden so gut, dass im Wettkampf der Flachsprint trotz Steigerung über 100 Meter auf 11,42 Sekunden hintenangestellt wurde. „Über die Hürden profitiere ich sehr von meiner Schnelligkeit, in der ich gegenüber vielen Konkurrentinnen einen Vorteil habe.“
Resultat war nicht nur der nächste Titel bei der Jugend-DM über 100 Meter Hürden (13,38 sec), sondern auch noch Gold bei der U20-EM in Jerusalem (Israel) mit der zweitschnellsten Zeit einer deutschen U20-Athletlin (13,06 sec) seit Gloria Kovarik im Jahr 1983 (13,00 sec). Obendrauf gab es Gold mit der 4x100-Meter-Staffel (43,82 sec) und die Wahl zur „Jugend-Leichtathletin des Jahres“.
Training mit internationalen Top-Stars
Neben dem sportlichen Jahr auf der Überholspur machte die 19-Jährige auch noch ihr Abitur. Ihr schon länger gefasstes Vorhaben, nach dem Schulabschluss zu reisen, verband sie mit ihrer neu eröffneten Perspektive auf eine Karriere im Leistungssport. In den USA besuchte sie unter anderem mit Los Angeles die Olympiastadt von 2028 und trainierte in Florida mit Dreisprung-Olympiasieger Christian Taylor und dessen Frau Beate Taylor, Olympia-Siebte im Hürdensprint von 2012. Anschließend trainierte die Aufsteigerin dreieinhalb Wochen in Jamaika mit der Trainingsgruppe von Shelly-Ann Fraser-Pryce.
Dass Rosina Schneider bei diesen sich überschlagenden Ereignissen auch in der zurückliegenden Hallensaison die nächsten starken Rennen ablieferte, spricht dafür, dass sie in die Welt des Leistungssports passt, die sie in so kurzer Zeit für sich entdeckt und ein Stück weit erobert hat.
Unterstrichen wird dies durch ihren Auftritt bei der Hallen-DM in Leipzig. Gleich bei ihrem ersten Start bei einer nationalen Meisterschaft in der Frauenklasse ließ sie in neuer Bestzeit von 8,08 Sekunden in einem Wimpernschlagfinale Franziska Schuster (TSV Bayer 04 Leverkusen), Monika Zapalska (TV Wattenscheid 01; beide 8,09 sec) und Marlene Meier (TSV Bayer 04 Leverkusen; 8,10 sec) knapp hinter sich. Dieses Quartett und dazu noch die zurückgekehrte Ricarda Lobe (MTG Mannheim) versprechen sich auch im Sommer spannende Rennen zu liefern.
Nervosität ist durchaus vorhanden
Solche engen Entscheidungen wie in Leipzig sind ganz nach dem Geschmack von Rosina Schneider. Dass sie ihre Leistung auch in solchen Situationen abrufen kann, hat vielschichtige Gründe. „Ich bin schon sehr nervös“, erklärt Rosina Schneider. „Dass ich jetzt immer als U20-Europameisterin vorgestellt werde, macht das nicht einfacher.“
Direkt am Start hilft ihr Musik, die häufig aus den Boxen schallt, um „positive Vibes aufzunehmen“. Mentaltraining macht sie nicht, tauscht sich aber über ihre Aufregung mit ihrer Trainerin Cathleen Tschirch und ihrer Mutter aus. „Wir haben zum Beispiel besprochen, was für mich eine Niederlage wäre. Und gerade vor der Hallen-DM ist uns nicht viel eingefallen“, erzählt die Deutsche Hallenmeisterin.
Ruhe und Vertrauen zieht sie neben ihrem persönlichen Umfeld auch aus ihrem Glauben an Gott, der ihr durch ihre Familie mitgegeben wurde. „Am Ende bin ich dann doch gar nicht mehr so nervös, wenn der Startschuss fällt.“
Neue Impulse fürs Training mitgebracht
In der Vorbereitung auf den Sommer möchte Rosina Schneider unter anderem weiter an ihrer Hürdentechnik arbeiten. Dabei setzt sie auch auf neue Ansätze von ihrer Jamaika-Reise. „Dort habe ich eine neue Übung gemacht, bei der es darauf ankommt, das Schwungbein möglichst schnell wieder auf den Boden zu bekommen. Die machen wir jetzt auch im Training bei Sven Rees.“ Die Übung heißt in ihrer Gruppe „Rosi-Übung“.
Erkenntnisse fürs Krafttraining hat die Athletin ebenfalls gewonnen. „Mit Reißen und Umsetzen war ich vor meiner Reise nicht vertraut. Ich war auch beeindruckt, dass noch jüngere Athletinnen im Bankdrücken mehr Gewicht als ich gestemmt haben.“
Olympia-Ziel mit Zeit bis 2028
Aus den USA mitgebracht hat Rosina Schneider auch schon einen ersten Termin für ihre Sommersaison: Sie hat einen Startplatz beim Liese Prokop Memorial am 17. Mai in St. Pölten (Österreich), Meeting-Direktorin ist Beate Taylor. „Als ich bei ihr trainiert habe, hat sie gesagt, dass ich perfekt in das Feld dort passe“, erzählt Rosina Schneider, die sich schon auf das Wiedersehen freut.
Nach ihren großen Erfolgen möchte sie sich keinen Druck mit festen Zielen für die kommende Freiluftsaison machen. „Mein Trainerteam würde sagen, dass sich eine baldige Zeit unter 13 Sekunden wohl nicht vermeiden lässt.“ In diesem Bereich liegt auch die Norm (12,98 sec) für die EM in Rom (Italien; 7. bis 12. Juni). Die Jugend-Leichtathletin des Jahres will sich aber nicht darauf fixieren. „Klar wäre es schön und es ist nicht so, dass ich es nicht will. Aber ich will mir keinen Stress machen, sondern die nächsten Schritte meiner persönlichen Entwicklung gehen. Dazu gehört vor allem auch, verletzungsfrei weiter an mir zu arbeiten.“
Noch ein Stück weiter entfernt ist die Norm (12,77 sec) für die Olympischen Spiele in Paris (Frankreich; 1. bis 11. August). In Bezug auf beide internationalen Höhepunkte lässt Rosina Schneider den Sommer auf sich zukommen. „Ich bin noch jung.“ Aber 2028 nach Los Angeles möchte sie gern als Olympiateilnehmerin zurückkehren und schauen, was sich dort seit ihrer Reise im vergangenen Winter verändert hat.
Video-Interview: Rosina Schneider: "Das muss ich erstmal realisieren"
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Im vergangenen Jahr ist Rosina wie Phönix aus der Asche in Richtung 13-Sekunden-Marke gestürmt. Ich habe sie als aufgeräumte, fokussierte Athletin mit viel Potenzial kennengelernt. Dass sie in der Hallensaison schon 8,08 Sekunden laufen und bei der Hallen-DM gewinnen kann, hat sich im Trainingslager im Januar nicht unbedingt angedeutet. Das spricht dafür, dass Rosina im Wettkampf über sich hinauswachsen kann. Damit hat sie mich beeindruckt.
Sie bringt sehr gute Zeiten aus dem Flachsprint mit und geht voll auf die Hürden drauf. Das sind große Stärken. Technisch und rhythmisch gibt es noch Reserven. In Stuttgart ist sie mit ihrem Team um Cathleen Tschirch und Sven Rees sehr gut aufgestellt, um daran zu arbeiten.
Rosina bringt alles mit, um ihre Leistungen aus dem vergangenen Jahr zu bestätigen und zu verbessern. Zeiten um 13 Sekunden traue ich ihr im Sommer auf jeden Fall zu. Damit kann sie sich auch Hoffnung auf einen EM-Startplatz machen. Die nationale Konkurrenzsituation blüht gerade erfreulicherweise auf, Rosina ist mittendrin. Sie ist aber auch noch jung und hat noch Zeit, sich weiterzuentwickeln.