Zehnkämpfer Niklas Kaul ist als Weltmeister zu den Tokio-Spielen gereist. Für ihn ist das nicht nur eine Bürde. Das Wissen darum, es schon mal geschafft zu haben, ganz oben auf dem WM-Treppchen zu stehen, gibt ihm auch Sicherheit.
Olympische Spiele 2021
Niklas Kaul, Sie haben seit dem WM-Sieg am 4. Oktober 2019 in Doha anderthalb Zehnkämpfe in Götzis und Ratingen gemacht. Es lief alles andere als optimal. Was für Erkenntnisse haben Sie daraus gezogen?
Niklas Kaul:
Es war von Anfang an klar, dass das Training auf die Olympischen Spiele ausgerichtet ist, weil ich die Norm hatte und am Ende des Tages nur unter die besten drei deutschen Zehnkämpfer kommen musste. Dennoch ist es ärgerlich, wenn man Lust auf einen Zehnkampf hat, aber die Beine in Götzis nicht so richtig mitgespielt haben. Genau so war das Training auch geplant. In Ratingen war rückblickend die Einstellung, mit der ich in den Wettkampf gegangen bin, die falsche. Zu sagen, ich mache drei Disziplinen und wir gucken weiter – so kann man einen Zehnkampf nicht angehen.
Die 8.691 Punkte sind ihre WM-Hausnummer. Sich jährlich zu verbessern, sei Ihnen wichtiger, als immer der Beste zu sein. Hieße das: Wenn dies in Tokio gelingen würde, wäre das auch ein großer Gewinn und nicht nur, wenn Sie eine Medaille gewinnen würden?
Niklas Kaul:
Ja, auf jeden Fall. Ich erwarte, dass die Bedingungen in Tokio schlechter als bei der WM in Doha mit dem klimatisierten Stadion sein werden. Deshalb wäre eine neue Bestleistung auf jeden Fall ein Riesenerfolg.
Welche Potenziale sehen Sie für Bestleistungen?
Niklas Kaul:
Da sind wir beim Weitsprung, beim 400-Meter-Lauf, den 110 Meter Hürden und dem Hochsprung. Da ist das Training bisher am besten gelaufen. Bei der WM 2019 lief in der Woche vor dem Titelkampf überhaupt nichts. Da habe ich knapp den Diskus nur über 40 Meter geworfen und bin beim Stabhochsprung so gut wie gar nicht abgesprungen. Am Ende waren es gerade diese beiden Disziplinen, in denen ich Bestleistungen geschafft habe.
Wird wegen der Corona-Krise der Medaillenkampf in Tokio zur Wundertüte? Topfavorit und Weltrekordler Kevin Mayer aus Frankreich hat in dieser Freiluftsaison keinen Zehnkampf absolviert...
Niklas Kaul:
Ich glaube nicht, dass es eine große Wundertüte wird. Kevin Mayer macht ohnehin wenige Zehnkämpfe und hat bei der Qualifikation Ende 2020 8.500 Punkte gemacht. Wenn der fit ist und einen guten Wettkampf erwischt, kann er auch 8.800 oder 8.900 Punkte machen. Er ist Topfavorit auf Gold oder Silber. Man wird aber sehen, wer wie mit den Bedingungen umgehen kann. Wer kommt mit dem ganzen Drumherum mit täglichen Testungen, anderen Einschränkungen und dem Klima zurecht?
Die Tokio-Spiele sind mit den Corona-Regeln besonders und auch mental belastend. Haben Sie Rat von einem Psychologen eingeholt?
Niklas Kaul:
Das kann man sicher, habe ich aber nicht gemacht. Ich habe mir insofern Gedanken gemacht: egal, was da passiert, ich muss relativ flexibel damit umgehen. In den vergangenen Jahren im Mehrkampf musste ich oft im Training und Wettkampf flexibel sein. Das Schöne ist, ich habe vor Wettbewerben Vorbereitungen gehabt, die so viel schlechter gelaufen waren als jetzt – und dennoch hat es funktioniert. Solche Sachen muss man sich dann in Erinnerung rufen.
Ist der WM-Titel eine Bürde für Tokio?
Niklas Kaul:
Teils, teils. Auf der einen Seite ist er Motivation und gibt Sicherheit, dass man weiß, ja, ich habe das schon mal geschafft, ganz oben bei einer Weltmeisterschaft auf dem Treppchen zu stehen. Andererseits ist die Situation eine andere, wenn man als Weltmeister anreist und nicht Sechster bei der WM geworden wäre. Die äußere Wahrnehmung ist zudem eine andere, man wird häufiger gefragt, ob man mit einer Medaille schon zufrieden wäre oder es Gold sein müsste. Davon muss man sich frei machen. Wir starten alle mit null Punkten und am Ende darf man auch nicht vergessen, dass alle, die dort an den Start gehen, richtig gute Athleten sind.
Sie gewannen als jüngster Zehnkämpfer der Geschichte den WM-Titel, wurden zum Sportler des Jahres gewählt. Es gab einen Hype um Sie als neuem Superstar der Leichtathletik. Sie haben das genossen, aber durch den Ausbruch der Pandemie nur relativ kurz.
Niklas Kaul:
Ich habe das genossen. Man muss aber aufpassen, wenn man ins Training zurückkehrt, die gleiche Person wie zuvor zu bleiben. Man hat sich als Mensch ja nicht in dem zweitägigen Wettkampf verändert. Das wird immer so bleiben. Für mich war der Cut im März nicht schlecht, weil ich Zeit hatte, alles zu verarbeiten.
Sie haben in einem Interview einmal gesagt: Nach Tokio kommen die Sommerspiele 2024 in Paris und dann die in Los Angeles. Heißt das: Die Fortsetzung ihrer Karriere bis 2028 ist nicht ausgeschlossen?
Niklas Kaul
Ich wäre dann 30 Jahre alt, aber die komplette Karriere jetzt durchzuplanen und zu sagen, Los Angeles ist der letzte große Wettkampf, das macht keinen Sinn und funktioniert nicht. Man kann ja nicht mal die nächste Saison richtig planen. Dennoch schaut man sich an, wann und wo die Olympischen Spiel sinde. Ganz ausgeschlossen ist das deshalb sicher nicht.
9.000 Punkte sind die magische Barriere im Zehnkampf. Sie konnten in diesem Jahr beim Meeting in Götzis erleben, wie der Kanadier Damien Warner diese fast geknackt hätte. Er gewann mit 8995 Punkten. Hat das Lust gemacht, sich in diese Region zu kämpfen?
Niklas Kaul:
Das ist der Traum jedes Zehnkämpfers. Jeder hätte den perfekten Zehnkampf gerne mal. Leider wird den meisten dieser Wunsch nicht erfüllt, aber man hofft darauf.
In Tokio ist große Hitze und hohe Luftfeuchtigkeit zu erwarten. Wie kommen Sie damit zurecht?
Niklas Kaul:
Ich habe noch keinen Zehnkampf mit hoher Luftfeuchtigkeit bestritten. Hohe Temperaturen hatten wir bei Wettkämpfen schon häufiger, zum Beispiel bei der EM 2018 in Berlin mit 36 Grad Celsius. Das hat gut funktioniert. Da hat man den Vorteil, dass man sich nur morgens einmal warm machen muss und keine weitere Energie dafür verschwenden muss.
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