| Interview der Woche

Nele Alder-Baerens: "Ich werde in beiden Welten akzeptiert"

Läuferin Nele Alder-Baerens hat vor einer Woche ihre dritte WM-Silbermedaille im Ultra-Bereich gewonnen. Nach den Erfolgen über 50 und 100 Kilometer folgte nun der Vize-Titel bei den 24-Stunden-Weltmeisterschaften im französischen Albi. Dabei legte die 41-Jährige innerhalb eines Tages beeindruckende 254,288 Kilometer zurück – und das mit einer starken Seh- und Hörbehinderung. Wie die promovierte Biophysikerin so ein langes Rennen aus ihrer Perspektive erlebt, mit welchen speziellen Herausforderungen sie zu kämpfen hat und wie sie zwischen Behinderten und Nicht-Behinderten eine Brücke schlagen will, berichtet die Athletin des Ultra Sport Club Marburg im Interview.
Pamela Lechner

Nele Alder-Baerens, Sie haben vor einer Woche in Frankreich Silber bei der 24-Stunden-WM gewonnen, mit deutschem Rekord. Eine enorme Leistung. Wie stolz sind Sie auf diesen Erfolg?

Nele Alder-Baerens:
Danke! Ich hatte Glück, dass einige der Favoritinnen an dem Wochenende Probleme hatten. Doch ich freue mich sehr, dass ich in meinem zweiten 24-Stunden-Lauf überhaupt meine Bestleistung um drei Kilometer steigern konnte. Obwohl das Jahr schon sehr viele lange Läufe hatte: Am 18. Mai bin ich in Basel die 100 Meilen inklusive 12-Stunden-Split gelaufen, das war jeweils deutscher Rekord und W40-Weltrekord. Am 15. Juni habe ich mein 24-Stunden-Debüt in Hoyerswerda gegeben und bin dort zum ersten Mal deutschen Rekord gelaufen. Und im September war die 50-Kilometer-WM in Rumänien. Es war mir eine große Freude, dieses Ergebnis bei einer WM abrufen zu können.

Sie haben in 24 Stunden mehr als 250 Kilometer zurückgelegt. Wie hält man so lange durch? Muss man extrem ausdauernd und ehrgeizig sein?

Nele Alder-Baerens:
Ausdauernd ja. Ehrgeiz während des Rennens kann eventuell einen kontraproduktiven Druck aufbauen. Es sind noch viele andere Dinge wichtig: Eine Einheit und Zusammenarbeit von Körper und Geist. Freude am Laufen. Ein feines Gespür für die Bedürfnisse des Körpers nach Essen, Trinken, Kleidung. Die Fähigkeit, gegen den Biorhythmus zu laufen. Gut gekürzte Zehennägel. Gute Vorbereitung, Absprachen und Einkalkulierung aller möglichen und unmöglichen Eventualitäten. Ein gut zusammenarbeitendes Team. Und ganz wichtig – ein zäher, stresstoleranter, selbstloser Betreuer, der einen in- und auswendig kennt, damit man mit zunehmender Rennverblödung inklusive Wortfindungsstörungen noch optimal versorgt werden kann. Sicher habe ich noch vieles mehr vergessen.

Was war der härteste Moment während der Meisterschaft?

Nele Alder-Baerens:
Psychisch war das die erste Hälfte des Rennens mit dem sich immer wieder aufdrängenden Wissen, wieviel man noch vor sich hat. Körperlich die letzten zwei bis drei Stunden.

Kommt das auch in Ihrer Freizeit vor, dass Sie für lange Strecken, wo andere den Zug oder das Auto nehmen, lieber laufen?

Nele Alder-Baerens:
Ja! Meine längste Trainingseinheit ist 42 Kilometer lang und da meine Eltern 34 Kilometer von mir entfernt wohnen, nutze ich die Gelegenheit, ab und zu am Wochenende zu ihnen zum Frühstück zu laufen. Es ist ein besonderes Erlebnis, sonntagmorgens um 6:30 Uhr durch ein fast autofreies Berlin zu laufen. Auch Wege zu Freunden, Laufschuh-Geschäften oder ähnlichem nutze ich zum Kilometer sammeln.

Sie haben eine Seh- und Hörbehinderung – was bedeutet das in Ihrem Fall genau und welche Schwierigkeiten ergeben sich daraus, zum Beispiel bei der Ausübung Ihrer Sportart?

Nele Alder-Baerens:
Durch die starke Kurzsichtigkeit und Einäugigkeit und das daraus resultierende eingeschränkte Blickfeld sowie das fehlende räumliche Sehen nehme ich Details nicht wahr, die das Training erschweren und in einem Rennen entscheidend sein können. Zum Beispiel: Ist das ein Kind oder ein Hund oder ein Gepäckstück? Bewegen die Leute sich auf mich zu oder weg? Ist das ein Stein, ein Blatt oder nur ein Schatten? Laufen die Läufer versetzt oder nebeneinander, also wie überhole ich am besten? Welche von den Polinnen ist diese Polin – meine stärkste Gegnerin? Ist das ein Teamkamerad, den ich dann gern grüßen würde? Wie gut oder wie fertig sieht die Konkurrenz aus, also welche taktischen Spielchen sind sinnvoll? Ist das mein Betreuer, der jedoch seine gelbe Jacke ausgezogen und nun ein rotes Shirt anhat? Hält mein Betreuer eine Flasche oder einen Riegel in der Hand?

Das sind viele Fragen während des Rennens...

Nele Alder-Baerens:
Unebenheiten werden oft zu Stolperfallen, die zusätzlich Kraft kosten. Den Aufbau und Inhalt der allgemeinen Verpflegungstische erfasse ich beim Vorbeilaufen nicht, setze daher komplett auf Eigenverpflegung. Monitore und Anzeigetafeln kann ich nicht lesen, informative Handzeichen sind unmöglich. Und ist es zu dunkel, erkenne ich auch die Informationen auf dem Zettel an meiner Flasche nicht mehr – so läuft man dann im Informations-Blindflug.

Und Ihr Gehör?

Nele Alder-Baerens:
Im Alltag kann ich zwar etwas hören, doch beim Laufen bin ich komplett taub. Somit entfällt die akustische Kommunikation mit dem Betreuer oder den Teamkameraden. Ich höre die herankommende Konkurrenz nicht und kann so keine taktischen Spiele machen. Ich höre meine Schritte nicht und somit entfällt ein Feedback zur Bodenbeschaffenheit. Und ich nehme motivierende Dinge nicht wahr, zum Beispiel Musik, Trommeln, Zurufe, schon schwer atmende Konkurrenten.

Kann Ihre Behinderung auch ein Vorteil sein?

Nele Alder-Baerens:
Ja! Man läuft sehr fokussiert und konzentriert.

In Ihrer Karriere haben Sie sowohl an vielen Para-Veranstaltungen als auch Langstrecken- und Ultraläufen teilgenommen – gibt es besondere Unterschiede bei diesen Wettbewerben und wenn ja, welche?

Nele Alder-Baerens:
Bei den Gehörlosen-Wettkämpfen empfinde ich ein gewisses Familiengefühl durch die gemeinsame Behinderung, während man im Alltag eher ein "Exot" ist und sich gegebenenfalls erklären muss. Und auch die internationale Kommunikation ist dann einfacher. Bei den Ultraläufern erlebe ich einen einmaligen Teamgeist, der auch während (!) des Wettkampfes zu spüren ist. Die gemeinsame Freude, solch einen langen Lauf "überlebt" zu haben. Zu wissen, wie man kämpfen und Schmerzen aushalten musste und niemandem erklären muss, warum man denn bitteschön so etwas Verrücktes macht. Mir ist es wichtig, eine Brücke zu schlagen zwischen Behinderten und Nicht-Behinderten, einfach durch mein Dabeisein. Damit zeige ich: Seht her, es gibt auch die anderen, aber wir sind gar nicht so anders. Ich werde in beiden Welten akzeptiert und wir können alle voneinander lernen und uns gegenseitig bereichern.

Welche Art des Wettbewerbs favorisieren Sie?

Nele Alder-Baerens:
Das ist schwer zu sagen. Ich merke nur, dass ich allmählich zu alt und zu lahm für die "kurzen" Läufe werde. Diese sind schneller zu Ende, das hat einen gewissen Reiz. Bei den langen Strecken wird man mit Problemen konfrontiert, die bis 100 Kilometer kaum auftreten: Mehrfache Wetterwechsel und Temperaturschwankungen, notwendige Anpassung der Verpflegung, Tag-Nacht-Unterschiede, ein Betreuer, der mit durchhalten muss. Die erfolgreiche Bewältigung dieser Probleme erfüllt mich mit einer Freude, die ich bei den kürzeren Distanzen nicht in der Form spüre.

In Albi waren Sie sogar schneller als die besten deutschen Männer. Was bedeutet es Ihnen, dass Sie mit Ihrer Behinderung mit den besten Ultra-Läufern der Welt (ohne Handicap) mithalten können?

Nele Alder-Baerens:
Ich hatte Glück, dass ich gut durchkam und die meisten deutschen Männer hatten Pech, dass sie nicht gut durchkamen. Dennoch freue ich mich, dass ich trotz der beiden sich gegenseitig verstärkenden Behinderungen mithalten kann. Viel wichtiger ist jedoch, dass mir die Veranstalter entgegenkommen und mir helfen. Dass die Sportler mir mit Respekt begegnen und mir verzeihen, wenn es aufgrund der Behinderungen zu Problemen kommt. Wir leben alle auf einer einzigen Welt und haben alle irgendwelche Probleme: physisch, psychisch, kulturell, finanziell oder politisch. Sport überwindet Grenzen, die leider nur menschengemacht sind. Sport lehrt Toleranz und Respekt. Das erfüllt mich mit innerer Freude.

Was verstehen Sie persönlich unter Inklusion und wie wichtig ist das Thema für Sie?

Nele Alder-Baerens:
Ich thematisiere es weniger, sondern versuche, es zu leben. Die beste Inklusion wäre, wenn es kein Wort dafür geben müsste.

Mehr:
24-Stunden-WM: Nele Alder-Baerens läuft mit deutschem Rekord zu WM-Silber

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