Hürdenläufer Karsten Warholm ist der Shooting-Star der europäischen Leichtathletik. Nie um einen Kommentar verlegen, bereichert der Norweger, der einst mit dem Mehrkampf begonnen hatte, nicht nur mit seinen Weltklasse-Zeiten die Leichtathletikszene. Erfolgsgeheimnis des Europarekordlers über 400 Meter Hürden: die besondere Beziehung zu seinem Trainer Leif Olav Alnes.
Svein Arne Hansen hatte vergangenes Wochenende Grund zur Freude. Der Präsident des Europäischen Leichtathletik-Verbandes durfte bei den Golden Track Awards die Trophäe für Europas "Leichtathleten des Jahres“ 2019 an seinen norwegischen Landsmann überreichen. An Karsten Warholm, den derzeit weltbesten 400-Meter-Hürden-Läufer. Ein Selfie mit Wikingerhelmen gab es für den siegreichen Athleten und den EAA-Präsidenten ebenfalls.
„In zwei Jahren stehst du hier oben“, rief der frisch gekürte Sieger dem als „Rising Star“ geehrten Zehnkampf-Weltmeister Niklas Kaul (USC Mainz) zu. 2017 hatte der Norweger, ebenfalls nach seinem ersten WM-Titel, dieselbe Auszeichnung entgegengenommen. Und die beiden Weltmeister haben noch mehr Gemeinsamkeiten. Denn auch Karsten Warholm hat eine Vergangenheit als Mehrkämpfer.
Letzter U18-Weltmeister im Achtkampf
2013 machte der damals 17-Jährige erstmals auf sich aufmerksam. Bei den U18-Weltmeisterschaften im ukrainischen Donetsk gewann Karsten Warholm Gold im Achtkampf, der damals im Jugendbereich noch anstelle des Zehnkampfes ausgetragen wurde. 6.451 Punkte erzielte der Norweger, nur 40 weniger als U18-Weltrekordhalter Jake Stein (Australien).
Zum Vergleich: Zehnkampf-Weltrekordler Kevin Mayer (Frankreich) kann aus Jugendjahren eine Achtkampf-Bestleistung von 6.478 Punkten vorweisen. Karsten Warholm sollte der letzte U18-Weltmeister im Achtkampf bleiben, 2015 in Cali (Kolumbien) wurde auf zehn Disziplinen aufgestockt. Der Sieger damals: Niklas Kaul.
Ein Jahr nach seinem Triumph in Donetsk nahm der Norweger als Zehnkämpfer an den U20-Weltmeisterschaften in Eugene (USA) teil, 2015 wagte er bei den U20-Europameisterschaften in Eskilstuna (Schweden) einen Doppelstart im Zehnkampf und über 400 Meter flach – und nahm zwei Silbermedaillen mit nach Hause. 7.764 Punkte erreichte er in diesem Zehnkampf, der sein bester und zugleich sein letzter sein sollte.
Wurfschwäche erschwerte Mehrkampf-Karriere
Der Übergang vom Acht- zum Zehnkampf bereitete dem jungen Athleten Probleme. „Ich hatte im Achtkampf sechs starke Disziplinen und zwei Schwächen: das Kugelstoßen und das Speerwerfen“, erzählt der 23-Jährige. Mit der Erweiterung auf zehn Disziplinen kamen zwei weitere technische Herausforderungen auf ihn zu: „Als Achtkämpfer habe ich nie Stabhochsprung oder Diskuswurf trainiert“, blickt der U20-WM-Zehnte von 2014 zurück. „Ich wusste, dass ich mit vier schwachen Disziplinen im Zehnkampf keine Chance auf Gold haben würde.“
Der große Traum des Norwegers war zudem eine Teilnahme an den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro (Brasilien). Im Zehnkampf könne das schwierig werden, schätzte Trainer Leif Olav Alnes die Situation ein. In der Saison 2016 konzentrierte sich der Athlet daher erstmals auf die 400 Meter Hürden.
Mit Erfolg: Bei den Europameisterschaften in Amsterdam (Niederlande) lief Karsten Warholm auf Anhieb ins Finale, wo er den sechsten Platz belegte. Bei den Olympischen Spielen stellte er im Vorlauf mit 48,49 Sekunden einen norwegischen Rekord auf und schaffte es ins Halbfinale. Dennoch sah sich der neue Landesrekordler weiterhin als Mehrkämpfer. Gemeinsam mit dem früheren Olympiasieger Andreas Thorkildsen arbeitete der Nachwuchsathlet an seiner größten Schwäche, dem Speerwurf.
WM-Titel sorgt für endgültigen Umstieg
Doch auch mit der Umstellung auf die schwereren Wurfgeräte hatte Karsten Warholm zu kämpfen. Daher setzte er bei den Weltmeisterschaften 2017 in London (Großbritannien) auf die 400 Meter Hürden – und wurde sensationell Weltmeister. Nach diesem Erfolg traf er seine endgültige Entscheidung für den Langsprint und gegen den Mehrkampf.
Angesichts seiner Wurfschwäche ist Karsten Warholm heute glücklich darüber: „Wenn man anfängt, mit der schwereren Kugel zu stoßen, den schwereren Diskus und Speer zu werfen, erfordert es viel mehr Zeit und Arbeit, um sich deutlich zu verbessern. Ich bin sehr froh, dass ich diesen Entschluss gefasst habe.“
Sein Trainerteam hatte dem Youngster zu einer Spezialisierung geraten. „Karsten hat sich im Speerwerfen gut entwickelt, aber das ist nicht unbedingt gesundheitsfördernd und birgt ein höheres Risiko“, erklärt Speerwurf-Coach Thorkildsen. Cheftrainer Alnes ist überzeugt: „Ich glaube, er hätte auch ein wirklich guter Mehrkämpfer werden können, aber das hätte mehr Zeit gebraucht.“
Humorvolles Duo
Als Trainer, Mentor, aber auch guter Freund hat Leif Olav Alnes großen Einfluss auf Karsten Warholm. Der Altersunterschied von fast 40 Jahren spielt keine Rolle: „Im Geiste sind wir gleich alt. Ob das jetzt fünf oder 50 ist, sollen andere entscheiden“, sagt der 23-Jährige in seiner ihm eigenen scherzhaften Art. Der 62-jährige Trainer teilt den Humor seines Athleten. „Mein Humor hat hauptsächlich den Zweck, mich selbst zu amüsieren. Damit, dass andere mich nicht lustig finden, kann ich leben“, erklärt der Coach.
„Er ist stur. Er hat diese ganzen alten Dinge, alte Klamotten, und hatte auch ein altes Telefon, bis ich ihm ein Smartphone geschenkt habe. Er will sich nicht ins Internet einloggen, wenn wir unterwegs sind, weil man den PC hacken kann. Er ist extrem paranoid in Bezug auf diese Dinge“, beschreibt Karsten Warholm seinen Trainer.
Besondere Trainer-Athlet-Beziehung
Als „harte Liebe“ beschreibt der Europarekordler das Verhältnis zu seinem Trainer: „Wenn du zehn Jahre deines Lebens diese ganzen Trainingsstunden aufwendest, muss die Trainer-Athlet-Beziehung über eine professionelle hinausgehen. Wir müssen Freunde sein.“ Trotzdem kann Alnes, der in Norwegen „Dr. Sprint“ genannt wird, auch sehr harsch werden, wenn er spürt, dass sein Schützling sein Potenzial nicht ausschöpft. Im vergangenen Jahr erklärte der Coach Warholm, er müsse abnehmen. „Du auch“, erwiderte der Athlet. Beide verloren daraufhin mehrere Kilos.
Sechs bis acht Stunden trainiert der U23-Europameister über 400 Meter Hürden von 2017 täglich. Sein Wirtschaftsstudium hat er auf Eis gelegt, um sich vollkommen auf seine sportliche Karriere zu konzentrieren. „Früher habe ich nicht verstanden, was Profisport ausmacht. Aber man muss Prioritäten setzen, um Ergebnisse auf Top-Niveau liefern zu können“, meint Warholm.
Trainer als "Mastermind"
Der studierte Biomechaniker Alnes hatte seine Trainerkarriere schon beenden wollen, als Karsten Warholm ihn 2015 um eine Zusammenarbeit bat. Dass er sich darauf eingelassen hat, bereut der Trainer nicht: „Ich bin extrem privilegiert, mit dem Jungen zusammenarbeiten zu dürfen. Er ist talentiert und hat was im Kopf, ist außergewöhnlich reflektiert und ein toller Kerl. Es macht Spaß, Zeit mit ihm zu verbringen und täglich zur Arbeit zu gehen“, erklärt der 62-Jährige. Und fügt hinzu: „Man lernt, solange man Schüler hat.“
Die Trainingsmethoden des Teams sind ungewöhnlich. Beim Diamond League-Finale in Zürich (Schweiz) bereitete sich Karsten Warholm nicht auf dem Aufwärmplatz auf sein Rennen vor, sondern machte sich auf einer Straße hinter dem Athletenhotel warm. Zur Titelverteidigung bei den Weltmeisterschaften in Doha gab Alnes seinem Schützling einen Drei-Punkte-Plan mit auf den Weg. Erstens: Du musst gut trainiert sein. Zweitens: Du musst gut ausgeruht sein. Drittens: Ruinier' es nicht. „Renn, als ob es kein Morgen gäbe“, befahl der Coach. Gesagt, getan – Karsten Warholm verteidigte seinen Titel erfolgreich.
Entwicklung hat Priorität
Trainieren sei einfach und kompliziert zugleich, sagt Alnes. Priorität habe es, auf seinen Körper zu hören. „Wir trainieren viel, das tun die meisten. Aber wir beschäftigen uns genau damit, wo das Training hinführt. Es ist, wie wenn man sich ein Glas Milch eingießt: Man sieht, wenn das Glas voll ist.“ Wird weiterhin Milch nachgegossen, läuft das Glas über. Genauso, so Alnes, sei es auch mit dem Training. Wenn man nicht auf die Signale seines Körpers eingehe, wehre sich dieser mit Verletzungen.
„Man kann keine Angst davor haben, zu verlieren, nur davor, sich nicht zu entwickeln“, predigt der Trainer stets. Karsten Warholm sieht das ebenso: „Es bereitet mir extrem große Freude, mich zu entwickeln, und die Entwicklung geschieht meist im Training. Das ist die Grundlage, von der alles ausgeht.“
Schon jetzt einer der Besten aller Zeiten
Die bisherige Entwicklung des 23-Jährigen ist beeindruckend. Mit 46,92 Sekunden ist der junge Norweger der zweitschnellste 400-Meter-Hürden-Läufer aller Zeiten. Zweimaliger Weltmeister. Europameister. Hallen-Europarekordler und -Europameister über 400 Meter flach.
Kein Rennen hat er in dieser Saison verloren, dreimal den Europarekord verbessert. Sieben der zehn schnellsten Hürdenzeiten, die jemals von Europäern erzielt wurden, gehen auf sein Konto. Mit Stephane Diagana (Frankreich) ist nur ein Europäer jemals eine schnellere Zeit (47,37 sec) gelaufen als Warholms Top-Ten-Durchschnitt (47,44 sec) – ein Jahr vor dessen Geburt.
Der Hürden-Weltrekord von Kevin Young (USA; 46,78 sec) ist nicht weit entfernt. Doch für Karsten Warholm hat etwas anderes Priorität. „Die Freude am Sport hat Vorrang vor allem anderen“, erklärt er. Und es gibt noch etwas, auf das der Europarekordler Wert legt: „Ich will am Ende meiner Karriere kein alter Griesgram sein. Ich möchte jungen Athleten Respekt zollen und sie auf ihrem Weg an die Spitze begleiten.“