Die Leichtathletik experimentiert bei den Europaspielen in Minsk an ihrem Erbgut herum. Der Teamgedanke steht bei der "Hip-hop-Version" des Wettkampfs im Vordergrund. Der Modus ist kompliziert – selbst für die Sportler.
Die Nacht legte sich bereits über Minsk, da wusste Michael Pohl (Sprintteam Wetzlar) endlich, was sein 100-Meter-Lauf fast neun Stunden zuvor wert war: Nicht genug für Bronze. "Ein bisschen komisch" fand Pohl die neue Wettkampfform, die der Europäische Leichtathletik-Verband als DNA, Dynamic New Athletics (Dynamische neue Leichtathletik), bezeichnet. Der Wetzlarer, der in seinem Lauf am Sonntagmittag mit der nach internationalen Maßstäben mäßigen Zeit von 10,54 Sekunden Zweiter geworden war, rutschte durch die Resultate in der letzten von vier Startgruppen in der Einzelwertung noch auf Platz fünf.
Der Modus sorgt bei den Europaspielen für Irritationen. "Uns ist erst am Abend vorher gesagt worden, dass es überhaupt eine Einzelwertung gibt", sagte die Berliner Weitspringerin Melanie Bauschke. Der Teamwettbewerb steht beim DNA-Wettbewerb, mit dem die Leichtathletik an ihrem Erbgut herumexperimentiert, im Vordergrund. Der ist kompliziert und konterkariert das Prinzip der Einfachheit von Laufen, Springen, Werfen.
Verfahren gleicht der Nordischen Kombination
In vier kleinen "Länderkämpfen" mit je sechs Nationen messen sich in der ersten Runde die Teams in acht Einzelwettkämpfen. Die Resultate in Hürdensprint, Speerwurf, Hochsprung usw. werden in Punkte umgerechnet, die wiederum in Zeitabstände für eine Mixed-Jagdstaffel über 800, 600, 400 und 200 Meter umgewandelt werden.
Das Verfahren gleicht dem in der Nordischen Kombination. Deutschland und die anderen drei Sieger dieser Staffeln (und zwei Zweitplatzierte) springen in Minsk direkt ins Halbfinale am Mittwoch und müssen nicht wie alle anderen am Dienstag zum Viertelfinale erscheinen. Die Entscheidung über die Medaillen für die Teams fällt im Finale am Freitag. "Wir wollen unter die ersten drei", sagte Pohl.
"Ich hatte mir den Modus einfacher vorgestellt", gestand Bauschke. Denn auch in den Einzelwettbewerben wird experimentiert. Die Weitspringerinnen traten in zwei Dreiergruppen jede gegen jede an und ermittelten damit Pärchen für einen finalen Durchgang, in dem die Punkte verteilt worden. Die Hochspringer forderten sich gegenseitig in ihren Duellen mit selbstgewählten Höhen.
Gemischte Reaktionen auf revolutionäres Konzept
Die Leichtathletik will attraktiver fürs breite Publikum werden: Duellsituationen und Teamgedanke statt Rekordjagd und Einzelgängertum. Svein Arne Hansen, Präsident des Europäischen Leichtathletik-Verbands und Vater der von ihm als "Hip-hop-Version" bezeichneten Wettkampfform betonte allerdings, dass DNA "die traditionelle und klassische Leichtathletik" nicht ersetzen, sondern nur ergänzen werde.
Der Norweger berichtete von "gemischten Reaktionen" auf das "revolutionäre Konzept", in das der Verband nach eigenen Angaben einen siebenstelligen Euro-Betrag gesteckt hat. Zur Premiere in Minsk sagte er: "Das ist kein fertiges Produkt, sondern ein erster Eindruck von dem, wo wir hinwollen."
Für Minsk waren auch Sprints mit angeschnallten, bremsenden Fallschirmen oder sechs Kilo schweren Medizinbällen sowie ein Standweitsprung im Gespräch. Das wäre dann wohl doch ein bisschen viel des Revolutionären gewesen. Sprinter Pohl steht Neuerungen offen gegenüber: "Es ist schön, wenn die Menschen die Leichtathletik neu erleben können."
Quelle: Deutsche Presse-Agentur (dpa)