Vom Leistungssport zu Post Covid und wieder zurück: Kugelstoßerin Alina Kenzel war zwei Jahre komplett raus aus dem Leistungssport. Im vergangenen Jahr folgte die Rückkehr auf die Wettkampfbühne. Sportliche Träume erfüllten sich – mit großer Willensstärke meldete sie sich als EM-Vierte und Olympia-Neunte zurück. In diesem Jahr wagt sie einen Neuanfang, geht im Training neue Wege und will sich ausprobieren.
Die Autogrammjäger stehen Schlange: Alina Kenzel (VfB Stuttgart) greift zum Stift, signiert Ankündigsplakate des Nordhäuser Kugelstoß-Meetings. Die große Aufmerksamkeit gilt an diesem Nachmittag aber einer anderen Athletin: Olympiasiegerin Yemisi Ogunleye (MTG Mannheim), die von kleinen wie großen Fans dicht umlagert ist. Alina Kenzel schleicht sich vorsichtig an der Menge vorbei. Ein paar Meter weiter wird es ruhiger, der Aufwärmbereich für die Athleten ist menschenleer. Genau der Ort, um etwas durchzuatmen und über ihre „Comeback-Saison“, neue Wege sowie ihren langen Weg zurück in den Leistungssport zu sprechen.
Es war eine körperliche Vollbremsung: Zwei Corona-Infektionen zwangen die Stuttgarterin Alina Kenzel zu einer längeren Pause. Eine Pause, die sie körperlich schwer an ihre Grenzen brachte. In der sie nicht mehr wusste, ob sie überhaupt irgendwann wieder Leistungssport würde betreiben können: „Der Sport war zu diesem Zeitpunkt ganz weit weg. Ich war sogar kurz davor zu sagen, ich höre auf, weil du nicht weißt, ob und wie du überhaupt deinen Alltag bestreiten kannst, da kannst du nicht an Leistungssport denken“, lässt die 27-Jährige tief in ihr Innerstes blicken.
Sie nahm den Kampf an – die zwei folgenden Jahre glichen eher einem Langstreckenlauf. Schrittweise folgte die Rückkehr in ein „normales“ Leben. Schrittweise fasste sie neue Motivation, um wieder mit dem Kugelstoßen anzufangen. „Wenn du ein Leben lang im Sport warst, zwei Jahre raus bist, da habe ich schon gemerkt, ich bekomme wieder Lust. Anderseits war es auch ganz gut, zwei Jahre zum Aufatmen zu nehmen und jetzt neu anzugreifen“, wiegt sie im Rückblick das Für und Wider ab.
Langzeitfolgen noch immer spürbar
Die gesundheitlichen Langzeitfolgen sind phasenweise spürbar, selbst wenn es ihr jetzt deutlich besser geht. Sei es gelegentlich Asthma, auftretende Migräne oder „Brain Fog“, zu deutsch Gehirnnebel. „Ich nehme Medikamente, aber mir geht es schon besser. Ich kann hier stehen und stoßen, das ist das Wichtigste“, verdeutlicht Alina Kenzel.
Auf dem Weg zurück in den Alltag und den Sport habe sich auch etwas an ihrer Einstellung verändert: „Man weiß jetzt, es gibt noch etwas anderes außer Sport. Man muss auch außerhalb des Sports klarkommen.“ Dafür gibt es in ihrem privaten Umfeld die richtigen Menschen, bei denen sie auf „andere Gedanken kommen kann“.
Ablenkung findet Alina Kenzel bei ihrer Familie und Freunden. „Ich habe ein Umfeld zu Hause, dass gar keinen Sport treibt. Das braucht es einfach, wenn man zu sehr im Sport verankert ist. Das merkst du einfach, dann muss ich mich anderweitig beschäftigen. Ich treffe mich mit Freunden, gehe raus oder fahre mal ein Wochenende weg“, sagt Alina Kenzel, die im Gespräch immer wieder bekräftigt: „Ich bin gesundheitlich auf einem guten Weg.“
Olympia-Traum gibt Kraft
Ebenso wie sportlich. Dazu verhalf ihr eine tolle Comeback-Saison 2024. Im Mittelpunkt standen die Olympischen Spiele. „Der Wille im vergangenen Jahr war größer. Ich habe mir gesagt, ich komme zurück und will es schaffen. Die Spiele waren mein allergrößter Traum“, macht sie deutlich. Sie wusste: „Ich muss alles reinlegen, wir müssen direkt rein.“ Wie beim Poker: „All-In.“
Dank ihrer Willensstärke gelang die Rückkehr auf die ganz große Bühne: Bei der EM verpasste als Vierte gar knapp die Medaille, bei den Olympischen Spielen wurde es Platz neun. „Das war das Maximum, was ich erreichen konnte.“ Die Saison habe ihr jedoch viel Energie geraubt, der Körper gab ihr entsprechende Signale. „Ich merke, ich brauche ein bisschen Luft, um das Ganze zu verarbeiten. Es gibt Tage, da bin ich gesundheitlich besser drauf, dann mal wieder schlechter. In den Momenten muss ich einfach meinen Weg finden.“
Mut für neue Wege
Nach diesem „All-In“-Jahr wagt Alina Kenzel jetzt mit ihrem Trainerteam um Peter Salzer einen Neuanfang. Auch das haben sie die zwei Jahre gelehrt: „Diese Zeit hat mir viel Mut gegeben zu sagen, ich gehe neue Wege und probiere mich aus. Es hat letztes Jahr gut geklappt, ich werde mich dieses Jahr nochmals darauf einlassen und vertraue da auf meine Trainer“, sagt Alina Kenzel. „Wir haben ein paar Sachen umgestellt. Wir probieren uns gerade ein wenig aus, was neue Routinen betrifft, und brechen die alte Trainingstechnik auf.“
So steht die Kugelstoßerin beim Angleiten nicht mehr ganz hinten an der Ringkante, sondern etwas weiter vorn. Das Krafttraining sieht jetzt auch etwas anders aus. „Wir haben Kraft-Ausdauer mit reingenommen. Das konnte ich letztes Jahr gar nicht machen, weshalb ich gesagt habe, wir fangen dieses Jahr bei Null an und schauen, dass wir die Ausdauer wieder ein bisschen ausbauen können.“
18 Meter zum Einstieg "okay"
Voll ins Training eingestiegen ist Alina Kenzel erst seit Dezember. Zuvor stand ein Bundeswehrlehrgang auf der Agenda, der gefolgt war von einer einwöchige Krankheitspause – so fehlte zunächst eine gewisse Regelmäßigkeit. Und im Januar begann bereits die Hallensaison.
Der Neuanfang bedeutet für die ehrgeizige Athletin, viel Geduld mit sich selbst zu haben, auch wenn die Kugel zu Beginn noch nicht fliegt wie gewünscht. Zuletzt in Nordhausen standen 18,07 Meter im Protokoll, zuvor in Dortmund waren es 18,16 Meter. „18 Meter sind okay, aber es könnte schon deutlich besser sein. 18,50 Meter wären so wie im letzten Jahr super.“
In Nordhausen war das Manko schnell ausgemacht: „Ich war mit dem rechten Bein zu langsam. Wir haben zuvor keine schnellen Sachen trainiert, nur Maximalkraft, damit kann ich rechts kein Gas geben. Das war reine Kraft, was ich gestoßen habe.“ Das Wagnis einen neuen Weg einzuschlagen, braucht seine Zeit, um andere Weiten zu erreichen.
Voller Wettkampfplan mit Option der Notbremse
Ihre Reise führt sie weiter nach Val de Reuil (Frankreich; 2. Februar) über Karlsruhe (7. Februar), Düsseldorf (9. Februar) und Berlin (14. Februar) nach Dortmund zu den nationalen Hallentitelkämpfen (21. bis 23. Februar) – ein strammes Programm.
Umso mehr versucht Alina Kenzel aufgrund ihrer Vorgeschichte, in ihren Körper reinzuhören, um sich selbst zurückzunehmen. Das falle ihr durchaus schwer. „Ich bin eine sehr ehrgeizige Athletin, die jeden Tag trainieren könnte, aber meine Trainer bremsen mich da schon etwas ein und geben mir die Richtung vor.“ Und auch sie selbst weiß mittlerweile nur zu gut: „Wenn ich merke, es geht mir gesundheitlich wieder schlechter, werde ich erneut die Notbremse ziehen müssen.“