Zum zweiten Mal in Folge ist Leo Neugebauer Deutschlands „Leichtathlet des Jahres“. Zuvor setzte der Zehnkämpfer seinen Höhenflug 2024 da fort, wo er 2023 aufgehört hatte. Doch es sind nicht nur seine deutschen Rekorde und die Krönung mit olympischem Silber, die für ihn zählen. Neugebauer ist vor allem als Person gereift.
Einfach noch mal die eigene Bestleistung abrufen. Das Ziel des Leo Neugebauer für das Jahr 2024 ist vor knapp zwölf Monaten so simpel wie herausfordernd. Der Zehnkämpfer hatte seinen kometenhaften Aufstieg in der Saison zuvor erlebt: Über Nacht wurde der Sonnyboy in seiner Wahlheimat Austin zum Helden, als er nach 39 Jahren den deutschen Rekord von Jürgen Hingsen knackte. 8.836 Punkte, die das Leben eines College-Leichtathleten gelinde gesagt „veränderten“.
In Wirklichkeit war „Leo the German“ im Sommer 2023 plötzlich zum Hoffnungsträger der deutschen Leichtathletik aufgestiegen. Er war es, der im Weltvergleich das zweitbeste Resultat aufweisen konnte. Doch was passiert, wenn die Erwartungen an die eigene Person exorbitant steigen – vor allem durch die Außenwelt?
„Ich würde sagen, meine größte Veränderung ist, dass ich ein bisschen fokussierter bin und weiß, in welche Richtung ich gehe.“ So interpretiert Neugebauer damals auch seinen Absturz von Rang eins auf fünf bei den Weltmeisterschaften in Budapest (Ungarn) nicht als Niederlage, sondern vielmehr als große und bedeutende Lehre.
Reflektierter und fokussierter
Was damals auffällt: Der schwäbische Auswanderer, der an der University of Texas eine monetäre Ausbildung erlebt, wie sie hierzulande zumeist nur die Wunschvorstellung ist, liebt das Spiel mit dem Publikum. „Leo“ ist schnell zum Fanliebling geworden – er wirkt so lässig, so fanorientiert. Da schimmert seine Persönlichkeit durch, die große Dankbarkeit, die er verspürt. Und doch hat er dieses „Drumherum“ im Jahr 2023 vielleicht etwas zu sehr übertrieben.
2024 ist das Auftreten des Leo Neugebauer ein anderes. Er ist reflektierter, kann sich noch besser auf das Wesentliche konzentrieren. Sportlich aber steht er seiner Vorsaison in nichts nach – und vor allem schafft er es, an seinen Vorsatz heranzukommen. 8.961 Zähler sammelt er bei den US-College-Meisterschaften ein – noch einmal 125 Punkte mehr als bei seinem Husarenstück ein Jahr zuvor. Sein zweiter deutscher Rekord.
Falsch, sein dritter! Denn Neugebauer begann schon im Winter so stark, dass er Monate vor den Olympischen Spielen in Paris (Frankreich) zum Top-Favoriten schlechthin wurde – 6.347 Punkte bedeutenden in Boston die Verbesserung des seit 2007 bestehenden Siebenkampf-Rekordes von Frank Busemann.
Große Überzeugung
„Man muss bereit sein, Opfer zu bringen“, hat Neugebauer nicht erst nach dem vergangenen Sommer gesagt. Der 24-Jährige hat sein Leben voll und ganz auf den Sport ausgerichtet, hat in den USA in den vergangenen Jahren die perfekten Bedingungen vorgefunden. Perfekt für seine Person – wie er immer wieder betont. Das trägt Früchte und soll es auch weiterhin tun: Nach seinem College-Abschluss wird Neugebauer seine Zelte in Austin nicht abbauen. Dort kann der Athlet des VfB Stuttgart sich schlicht am besten weiterentwickeln. Er mag die Leute. Die Kultur.
Als der Zehnkämpfer bei den Olympischen Spielen in Paris an den Start geht, hat er sein Ziel, wieder seine Bestleistung abzurufen, schon zweifach in die Tat umgesetzt. Doch im Stade de France ist es, wo die Leistung wirklich zählt. Neugebauer führt bis in die neunte Disziplin hinein, lässt zuvor im Stabhochsprung – gemessen an seinen Möglichkeiten – aber deutlich Federn. Im Speerwurf zieht dann der Norweger Markus Rooth am sechstbesten Athleten der Geschichte vorbei. Neugebauer kann im Rennen um die Goldmedaille nicht mehr aufholen. Auch weil er kein guter 1.500-Meter-Läufer ist.
„Ich gehe heim mit einem Lächeln“, ist bei ihm aber ganz und gar keine Spur von Melancholie zu vernehmen. Zu Recht. Denn Leo Neugebauer hat nicht nur die erste olympische Zehnkampf-Medaille eines DLV-Athleten seit 1996 gewonnen, sondern befindet sich seit zwei Jahren in einem durchgängigen Höhenrausch. Die 9.000-Punkte-Marke wird in Zukunft fallen, ist er selbst überzeugt. Und diese Überzeugung, nun ja, überzeugt. Ihn selbst – und seine Fans. In Deutschland ist der Ausnahmekönner dafür nun zum zweiten Mal in Folge zum „Leichtathleten des Jahres“ gewählt wordem