Ein letzter Tanz – das trifft bei Diskuswerferin Julia Harting beinahe wörtlich zu. Beim ISTAF Berlin stellte sich die 34-Jährige am Sonntag ein letztes Mal in den Ring, nahm in der Drehbewegung Schwung und ließ die Scheibe weit in das Olympiastadion fliegen. Nach 20 Jahren beendet die Athletin vom SC Neubrandenburg ihre Sportkarriere. Ein Blick zurück und nach vorn in die Zukunft.
„Beste Athletin, beste Frau, beste Mama“ – passendere Worte hätte es für das Plakat, das Ehemann Robert Harting auf der Tribüne beim ISTAF für seine Frau angebracht hatte, nicht geben können. Denn genau diesen drei Rollen versuchte Diskuswerferin Julia Harting seit der Geburt ihrer Zwillinge im Mai 2019 nicht nur gerecht zu werden, sondern diese auch alle miteinander bestmöglich zu vereinbaren.
Zwanzig Jahre ist es her, dass sie mit dem Diskuswurf begonnen hatte. Am Sonntag war der Tag gekommen, an dem sie ein letztes Mal die Wettkampfbühne betrat und ihre ein Kilogramm schwere Scheibe über den Rasen des Berliner Olympiastadions segeln ließ.
Dass sie das ISTAF für ihr Karriere-Ende gewählt hatte, war kein Zufall: „Ich mag das Berliner Olympiastadion schon sehr gerne und die Stimmung beim ISTAF ist immer etwas ganz Besonderes. Zudem bin ich als gebürtige Berlinerin ganz eng mit der Stadt verbunden und es ist schön, wenn auch viele da sind, die man kennt. Ich würde sagen, dass das ISTAF mein Lieblingsmeeting ist.“
Vage Erinnerungen an den ersten Wettkampf
Doch wie hatte einst alles begonnen? Wieso hatte sie sich im Alter von 14 Jahren für den Diskuswurf entschieden? Mit ihrer Körpergröße von 1,92 Metern wären sicherlich auch Disziplinen wie etwa der Hochsprung eine attraktive Alternative gewesen. „Mein damaliger Trainer Herr Goldmann hatte mich quasi gescoutet. Dann hatte ich das ausprobiert und konnte es recht gut. Weil ich schon immer ein sehr ehrgeiziger Mensch war, hat mir das, wo ich ganz vorne bin, auch immer am meisten Spaß gemacht. Deswegen bin ich dann dabei geblieben“, erinnert sich die Berlinerin.
Und hat noch vage die Bilder ihres ersten Wettkampfes vor Augen: „Ich weiß nur noch, dass ich aus dem Stand geworfen und gedacht hatte, dass ich das nie so richtig lerne. Gefühlt war so eine rotatorische Bewegung sehr schwierig und ganz anders als etwa beim Kugelstoßen, das ich damals noch mit der Angleittechnik gemacht habe.“
EM- und WM-Titel in der Jugend
Dass die heute 34-Jährige das Diskuswerfen dann doch recht schnell und vor allem gut gelernt hat, zeigen unter anderem erste Erfolge in der Jugend. Bereits 2007 gewann Julia Harting – damals noch unter ihrem Mädchenname Fischer am Start – den Titel bei den U18-Weltmeisterschaften in Ostrava (Tschechien), ein Jahr später folgte Silber bei der U20-WM im polnischen Bydgoszcz und 2009 Gold bei der U20-EM in Novi Sad (Serbien). Ebenfalls in Ostrava wurde sie 2011 auch U23-Europameisterin.
Rückblickend sagt sie: „Die Stadien im Ostblock mochte ich generell sehr gerne. Ich habe es immer geliebt, dass wir da in Unterkünften mit so einem Studenten- und Kasernenfeeling untergebracht waren. Das hat in unserem Team immer eine total schöne Stimmung gemacht. Im Nachhinein fand ich das sogar besser als manchmal in einem 5-Sterne-Hotel, wo man nicht so recht weiß, ob man im Urlaub ist oder sich gerade auf eine WM vorbereitet.“ Erfolgreich war sie aber auch mit luxuriösen Unterkünften, wie unter anderem ihr fünfter Platz bei der WM 2015 in Peking (China) beweist.
EM-Silber als Karriere-Highlight
Trotz starker Leistungen war ein Startplatz bei internationalen Höhepunkten jedoch nie ein Selbstläufer. Denn obwohl Julia Harting innerhalb von 20 Jahren Leistungssportkarriere auch den ein oder anderen Generationswechsel miterlebt hat, hat sich eines nie verändert: die starke Konkurrenz im deutschen Lager.
Geärgert hat sie sich darüber jedoch nicht: „Ich war nie die allertalentierteste Athletin, die jemals geboren wurde. Das war mir immer bewusst. Ich habe sehr viel aus den Möglichkeiten gemacht, die ich hatte. Gleichermaßen kann ich sehr gut damit umgehen, wenn andere besser sind als ich. Am Ende kann man nur das beeinflussen, was man selbst macht. Und im Nachhinein ist es auch so, dass ich mit den Mädels teils sehr enge Freundschaften entwickelt habe. Dafür bin ich sehr dankbar.“
Neben der Entwicklung von neuen Freundschaften ging es auch mit ihrer Karriere stetig voran. Nachdem sie 2014 bereits gute EM-Fünfte geworden war, feierte sie 2016 einen ihrer größten Erfolge. Nicht nur wurde sie in diesem Jahr Neunte bei ihren zweiten Olympischen Spielen, sondern auch Vize-Europameisterin in Amsterdam (Niederlande). „Als ich die Medaille damals gewonnen habe – zusammen mit Shanice Craft als Dritte – das war schon sehr schön“, sagt sie über das Highlight ihrer Karriere. Einen einzelnen Tiefpunkt hingegen kann sie nicht festmachen, ist sich jedoch darüber im Klaren, dass Tiefpunkte in einem Sportleben generell dazugehören.
Ein Leben ohne Sport ist unvorstellbar
Entsprechend ist dies auch ein Aspekt, den sie künftig gern hinter sich lässt. „Den Wettkampfsport als solchen werde ich nicht vermissen. Wenn man nicht mehr so richtig leistungsfähig ist, dann ist das nicht mehr das, was man einmal so sehr geliebt hat. Das Messen mit anderen fand ich schon immer geil. Das war die letzten Jahre aber etwas schwierig“, sagt sie.
Ganz wegzudenken ist der Sport für sie in Zukunft aber nicht: „Ein Leben ohne Sport kann ich mir nicht vorstellen. Und muss ich zum Glück auch nicht.“ Fester Bestandteil in ihrem Alltag wird unter anderem das Krafttraining bleiben – vermehrt zu finden sein wird Julia Harting aber auch auf dem Golfplatz: „Ich werde auf jeden Fall mit meinem Trainer Golfen gehen, das habe ich dieses Jahr so ein bisschen für mich entdeckt. Ansonsten werde ich mal gucken, was Spaß macht – vielleicht mal Beachvolleyball spielen oder so etwas.“
Viele Freundschaften geschlossen
Wenngleich jeder Abschied auch mit einem tränenden Auge vonstatten geht, ist es vor allem Dankbarkeit und Wärme, mit der Julia Harting auf die letzten 20 Jahre zurückblickt. Nicht nur durfte sie viele Erfolge feiern, sondern auch unglaublich viel erleben. Nicht zuletzt lernte sie ihren heutigen Ehemann Robert Harting im Sport kennen.
„Da einige meiner Freunde in den letzten Jahren auch peu á peu ihre Karriere beendet haben, haben wir schon viel darüber geredet. Dabei haben wir im Nachhinein festgestellt, dass Erfolge und das gut Sein zwar unglaublich schön sind. Und auch das, was man über sich selbst lernt und wie man in bestimmten Situationen wächst, mit denen man konfrontiert wird. Aber das Schönste sind wirklich die Menschen, die ich getroffen und die Freundschaften, die ich geschlossen habe“, erzählt sie.
Und antwortet auf die Frage, wie sie ihren letzten Wettkampf emotional erlebt hat und warum sie bei jedem ihrer Würfe stets ein Lächeln auf den Lippen hatte: „Ich finde, dass Traurigkeit und Wettkampf nicht richtig zusammenpassen. Deswegen habe ich versucht, mich auf das zu konzentrieren, was ich da mache“. Ihr weitester Wurf landete dabei nach 58,69 Metern.
Bewusste Entscheidung für die Familiengründung
Beruflich weiter geht es nun nicht mehr im Diskusring, sondern im gehobenen Dienst bei der Polizei: „Ich bin gerade im Aufstieg und fange dann bei der Bundespolizei-Sportschule Kienbaum an zu arbeiten. Darauf freue ich mich schon riesig. Bei mir war es noch nie so, dass ich Angst vor dem Danach hatte.“
Das war auch einer der Gründe, warum sie sich innerhalb ihrer Karriere gemeinsam mit ihrem Mann Robert bewusst dafür entschieden hatte, eine Familie zu gründen. „Ich wusste zu dem Zeitpunkt, dass ich in meiner Karriere alles erreicht habe, was ich erreichen konnte. Zudem wollte ich meinen Kindern vorleben, dass es wichtig ist, einen Traum im Leben zu haben und für etwas zu brennen.“
Dass es vor allem in den ersten beiden Jahren mit Zwillingen und dazu noch in der Corona-Pandemie nicht einfach und die Belastung enorm hoch war, habe sie einige Male kurz vor den Zusammenbruch gebracht. Doch Julia Harting hat sich nie unterkriegen lassen und ist sogar vor den Olympischen Spielen in Tokio noch einmal volle Risiko gegangen: „Man kann nie wissen, ob man es schafft, wenn man nicht alles rein gibt“, verrät sie über ihre Herangehensweise.
Voller Dankbarkeit für Dieter Kollark
Entsprechend war 2022 auch der Wechsel nach Neubrandenburg noch einmal ein mutiger Schritt. Den sie bis heute nicht bereut: „Der Wechsel zu Dieter Kollark war für mich noch einmal ein ganz wichtiger Punkt. Sonst hätte ich schon damals aufgehört. Mit ihm habe ich dann noch einmal sehr weit geworfen. Ich bin ihm unglaublich dankbar für alles, was ich von ihm gelernt habe und wie er auch meinen Blick auf die Zukunft verändert hat. Dass ich ihn menschlich und als Trainer näher kennenlernen durfte, das hat mir ganz viel gegeben. Er war einer meiner größten Unterstützer die letzten Jahre.“
Inwiefern sie künftig noch die Leichtathletik unterstützen wird, darüber will sich Julia Harting Gedanken machen, wenn sie alles verarbeitet hat und zur Ruhe gekommen ist. Erhalten bleibt sie ihrer Sportart auf jeden Fall – dieses Versprechen macht sie schon im Moment des Abschieds.