| Rezension

"Die Magie des Zehnkampfes": Niklas Kaul über die Sportart, die er liebt und lebt

© Jan Papenfuß
Passend zum Spitzensportjahr 2024 haben Niklas Kaul und Autor Achim Dreis das Buch „Die Magie des Zehnkampfes“ herausgebracht. Wir haben es bereits gelesen und können die Lektüre all jenen empfehlen, die nicht nur die Disziplin verstehen, sondern auch in die Welt ihrer Athleten eintauchen wollen.
Jane Sichting

Wenn am 2. August im Pariser Stade de France kurz nach 10 Uhr der erste Startschuss über 100 Meter im Zehnkampf fällt, beginnt für die Athleten nicht einfach nur ein Sprintwettbewerb, sondern zugleich eine zweitägige Reise mit Höhen und Tiefen. Was genau dabei die Magie des Zehnkampfes ausmacht, dem haben sich Welt- und Europameister Niklas Kaul (USC Mainz) und Autor Achim Dreis ausführlich in ihrem einem gemeinsamen Buch gewidmet.

Anders, als es der erste Blick auf das Cover vermuten lässt, das Kaul mit einem Speer in der Hand zeigt, eingerahmt von neun Piktogrammen seiner Silhouette während der einzelnen Teildisziplinen des Zehnkampfes, ist „Die Magie des Zehnkampfes“ keine Biografie. Auch erwartet den Leser auf den insgesamt 268 Seiten kein Theorieschmöker mit trockener Sportwissenschaft über die vielfältigste Disziplin der Leichtathletik. 

Der spezielle Zehnkampfkodex

Vielmehr führt das im Edel Sports Verlag erschienene Werk über vier Kapitel verteilt und um einen Epilog des Sportexperten und Olympia-Zweiten von 1996 Frank Busemann ergänzt zum einen in die Welt des Zehnkämpfers als Einzelsportler innerhalb einer großen Mehrkampffamilie ein und lässt den Leser zum anderen die Disziplin selbst samt seiner Geschichte und Ikonen besser verstehen. Gleiches gilt für den „speziellen Zehnkampfkodex“, wie DLV-Mediendirektor Peter Schmitt treffend das besondere Gemeinschaftsgefühl innerhalb der Zehnkampfkonkurrenz bezeichnet.

Für den Laien ist es eine spannende Lektüre über einen Sport, der zunächst sehr komplex und aufgrund seiner speziellen Punktebewertung schwer nachzuvollziehen scheint. Dennoch überfordert das Buch trotz vieler Fakten und Zahlen nicht. Indem immer wieder eine Korrelation zu Niklas Kaul hergestellt wird und er mit zahlreichen Zitaten selbst zu Wort kommt, bleibt das Buch inhaltlich nah am Athleten dran und lässt die Magie des Zehnkampfes anschaulich nachvollziehen. Selbst für Leichtathletik-Experten hält das Werk zahlreiche Details und Anekdoten bereit, die zu einem unaufhörlichen Lesefluss verleiten.

Den perfekten Zehnkampf gibt es nicht

Der Einstieg gelingt über ein szenisches Nacherzählen eines für Niklas Kaul bis heute unvergesslichen Moments seiner bisherigen Sportlerkarriere, dem Speerwerfen bei der Heim-EM im Münchner Olympiastadion 2022. Der Leser fühlt sich sofort mitgenommen und ganz nah dran am Athleten – dem späteren Europameister im Zehnkampf Niklas Kaul. Im weiteren Verlauf klärt sich dann noch detaillierter auf, wieso dieser eine Moment, der Wurf auf 76,05 Meter, am Ende Gold wert war.

Wie es der Titel des ersten Kapitels bereits vorwegnimmt, geht es in diesem um „den Zehnkämpfer“. Genauer genommen um den Zehnkämpfer Niklas Kaul, geboren am 11. Februar 1998 und seit seinem Titelgewinn bei der WM 2019 bis heute jüngster Weltmeister in der Geschichte des Zehnkampfes. Obwohl dieses WM-Gold selbst für den Mainzer eher überraschend kam, zeigt der Rückblick auf seine diesem Triumph vorausgehenden Erfolge, dass er weder ein One-Hit-Wonder ist noch ein gänzlich unbeschriebenes Blatt.

Was seit Anbeginn gleich geblieben ist, sind seine mentale Stärke, seine positive Einstellung sowie sein intaktes Umfeld. All das hilft ihm auch dabei, sich täglich zu quälen, obwohl er weiß: „Der perfekte Zehnkampf ist eine Wunschvorstellung von uns allen – die meistens nicht eintritt.“ Entsprechend taucht im Buch auch immer wieder der Vergleich auf, dass der Zehnkampf wie eine Schule für das Leben sei, in dem es nie nur bergauf gehe und das immer Höhen und Tiefen bereithält, mit denen es umzugehen gilt.

Ein Sport der Leidenschaft, der auch Leiden schafft

Was den Wettkampf selbst betrifft, erfährt der Leser, auf welche drei Komponenten sich Kaul stets verlassen kann und auch, wieso er das Gefühl liebt, am Ende von zwei harten Wettkampftagen völlig fertig zu sein. Darüber hinaus gibt es einen Einblick in das System Kaul, in dem seine Eltern Stefanie und Michael nicht nur Eltern, sondern zugleich auch seine Trainer sind, sowie in die Gefühlswelt von Niklas Kaul während seiner bislang größten Niederlagen, etwa dem Moment, in dem er bei den Olympischen Spielen von Tokio (Japan) im Rollstuhl verletzt aus dem Stadion gefahren wird. 

Denn auch diese Seite gehört zum Leben eines Zehnkämpfers. Treffend heißt es in Kapitel zwei, „Der Zehnkampf“, dass dieser ein „Sport der Leidenschaft“ ist und zugleich ein „Sport, der Leiden schafft“. Überspitzt formuliert wird der Schmerz auch gern als die elfte Disziplin des Zehnkampfes addiert. Welche Teildisziplinen hingegen tatsächlich und regelkonform wann und wie auf die zwei Wettkampftage eines Zehnkampfes verteilt sind, wird von Seite 51 an ausführlich und teils sehr detailliert erzählt – inklusive Regeln, Weltrekorden und Bewertungstabelle, nach der sich die Punkteverteilung berechnet.

Ein Balanceakt 

Darüber hinaus erklärt Niklas Kaul den Unterschied zwischen einem Mehrkampfmeeting und einem Zehnkampf im Rahmen eines Großereignisses, verrät, welche Wettkämpfe er bevorzugt, und gibt einen Einblick in seine Trainingsgestaltung. Denn wie trainiert ein Zehnkämpfer? Wie nutzt er die wertvolle Ressource Zeit am effektivsten, ohne ins Übertraining zu geraten und dennoch die Feinheiten der einzelnen Spezialdisziplinen nicht zu vernachlässigen? Was unterscheidet die Ganzheits- von der Teilmethode und welche Rolle spielt die gedankliche Arbeit, das Nachdenken über Technik samt Videoanalyse?

Was an dieser Stelle bereits verraten werden kann: Niklas Kaul liebt den Sport in der Gemeinschaft und genießt das Training in der Gruppe – obwohl er im Wettkampf Einzelkämpfer ist. Zudem werden ihm von mehreren Seiten eine gewisse Ausgeglichenheit und Freude am Sport zugeschrieben. Und seine Mutter Stefanie Kaul verrät auch, dass er manchmal ein „kleiner Blödel“ sein kann. Der Spaß steht für das gesamte Team stets an vorderster Stelle.

Die Zehnkämpfer – eine Familie voller Individualisten

Dass der Zehnkampf nicht nur selbst sehr vielseitig ist, sondern auch jene Individualisten, die ihn betreiben, wird in Kapitel drei deutlich. „Die Zehnkämpfer“ gelten zwar stets als eine große Familie, in der jeder jeden unterstützt und wo spätestens auf der gemeinsamen Ehrenrunde einander Respekt für die erbrachten Leistungen bekundet wird, doch sind es auch alle sehr spezielle und durchaus unterschiedliche Typen und Charaktere. 

Dies gilt sowohl in Bezug auf die sportlichen Stärken als auch in Bezug auf die Körperlichkeit und die Mentalität. Indem das Kapitel nicht nur über den Mythos vom „König der Athleten“ und den „Klub der 8.000er“ aufklärt, sondern sich in sogenannten Ahnengalerien auch den in ihrer Zeit jeweils besten Zehnkämpfern widmet, lernt der Leser schnell, dass es weder den perfekten Zehnkampf noch den einen perfekten Zehnkämpfer gibt. 

Der Leser kann die Magie des Zehnkampfes spüren

Das vierte und letzte Kapitel steht unter dem Titel „Mehr als Zehnkampf“ und beleuchtet zunächst den Mensch Niklas Kaul abseits des Sports – etwa als Student und Einzelunternehmer. Zudem zeigt es Kaul als einen „mitdenkenden Athleten“, der im Sport gelernt hat, dass „ohne harte Arbeit nichts im Leben funktioniert“. Auch klingt eine gewisse Kritik an der medialen Begleitung des Sports an und dass sich Kaul mehr Wertschätzung und weniger Schwarz-Weiß-Denken wünscht – oder wie er es sagt: „eine gesunde Einordnung“. 

Bis hierhin liest sich das Buch sehr flüssig und überzeugt mit einem lebendigen Stil und einer ausgewogenen Balance zwischen Unterhaltung und Information. Doch auf den etwa 60 letzten Seiten des vierten Kapitels geht der rote Faden etwas verloren und es entsteht der Eindruck, alles, was bisher noch nicht gesagt wurde, müsse noch mit untergebracht werden. „Mehr als Zehnkampf“ artet hier ein wenig in „alles Mögliche“ aus und folgt kaum noch einem klaren Strang. 

Bis dahin überzeugt das Buch in voller Länge und zieht den Leser geradezu in einen Bann. Es liest sich schnell und überrascht immer wieder auch Kenner der Materie. Oder anders gesagt: Das Buch lässt den Leser die Magie des Zehnkampfes spüren – ganz gleich, ob Laie oder Experte. Entsprechend ist es jedem zu empfehlen, der gern einmal in diese einzigartige Welt des Zehnkampfes und seiner Athleten eintauchen will. Und auch jenen, die spätestens bei den Olympischen Spielen den Zehnkampf mit einem tieferen Verständnis verfolgen und mit den Athleten mitfiebern wollen.

Olympische Spiele als „Ritt auf der Rasierklinge“

Dann wird auch Sportexperte Frank Busemann wieder als Experte zu Wort kommen. Gleichermaßen wie im Epilog, mit dem das Werk von Niklas Kaul und Achim Dreis schließt. In einem Interviewformat wirkt dieser mit Aussagen wie: „Zehnkampf ist geil.“ nicht nur wie eine Liebeserklärung an den Zehnkampf, sondern zugleich wie eine kompakte Zusammenfassung der Kernbotschaften des gesamten Buches. 

Neben Schlagwörtern wie Leidensfähigkeit, Geduld und Vielseitigkeit spricht Busemann über das Streben nach Perfektion, den Umgang mit Stärken und Schwächen sowie die Grundsatzfrage, ob Zehnkämpfer tatsächlich die „Könige der Athleten“ sind oder nicht doch eher jene, die alles ein bisschen, aber nichts richtig können. Zudem betont er, dass Olympische Spiele ihre eigenen Gesetze haben. Vergleichbar mit einem „Ritt auf der Rasierklinge“ müssen die Athleten nicht nur volles Risiko gehen, sondern dieses auch beherrschen, um das Spektakel zu gewinnen. 

Dazu bereit sind sie alle – wie fest Niklas Kaul dabei im Sattel sitzen wird und sowohl körperlich als auch mental der Ausnahmesituation im Stade de France stemmen wird, wird sich zeigen. Neben Überflieger Leo Neugebauer (VfB Stuttgart), der als Weltjahresbester als die große Goldhoffnung gehandelt wird, stehen auch für Niklas Kaul die Chancen gut, sich den Traum einer olympischen Medaille zu erfüllen. Er selbst sagt in seinem Buch abschließend dazu: „Ich werde mein Bestes geben, in Paris in noch besserer Form zu sein als in Doha.“

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