| Interview der Woche

Amadeus Gräber: „Ich habe zum ersten Mal vor Freude geweint“

Der neue U18-Europameister im Zehnkampf kommt vom SV Leonardo-da-Vinci Nauen und heißt Amadeus Gräber! Der 17-Jährige machte am Donnerstag in Jerusalem (Israel) in der finalen Disziplin, den 1.500 Metern, den Titel klar. Im Interview erzählt er, wie er den schwierigen zweiten Tag und den Moment seines Triumphes erlebt hat, verrät, ob Weltmeister Niklas Kaul ihm schon gratuliert hat, und blickt auf seine Anfänge in der Leichtathletik zurück.
Svenja Sapper

U18-EM 2022 Jerusalem

Amadeus Gräber, kannst du noch einmal auf den Moment zurückblicken, als du wusstest: Ich bin U18-Europameister?

Amadeus Gräber:

Ich konnte das erst gar nicht richtig realisieren. Ich bin ja auch in den Wassergraben gegangen. Als ich da drin war, ist es mir erst klar geworden. Ich habe wirklich zum ersten Mal vor Freude geheult – das habe ich vorher noch nie gemacht. Ich kann es gar nicht beschreiben, ich verstehe das immer noch nicht so richtig.

Am ersten Tag lief es für dich wie am Schnürchen. Am zweiten Tag folgten dann mehrere Rückschläge. Wie bist du damit umgegangen?

Amadeus Gräber:

Über die Hürdenzeit war ich noch total zufrieden. Dann kam als Nächstes der Diskuswurf. Ich hatte super Einwürfe, das wäre mit Abstand PB geworden. Und dann fange ich an mit dem Wettkampf, mache als Erstes einen Sicherheitswurf – alles in Ordnung. Dann gab es eine richtig heftige Diskussion mit den Schiedsrichtern, die meinten, mein Diskus, der ein gutes Stück über die 40 ging, war nicht im Sektor. Ich habe ihnen gesagt, sie sollen messen, das wurde aber nicht gemacht. Später wurde das dann per Video gecheckt und es wurde gesagt, er sei im Aus gewesen. Das habe ich anders gesehen, aber daran kann man ja nichts ändern. Im Stabhochsprung war bis 4,40 Meter alles sauber, bei 4,50 Meter habe ich einen anderen Stab genommen, das hat nicht mehr funktioniert. Das klappt halt nicht immer.

Nach deinem ersten erfolgreichen Sprung im Stabhochsprung bist du zu den Trainern gelaufen und hast gesagt, wie erleichtert du bist, dass du weder im Diskus noch mit dem Stab null Punkte gemacht hast. Woher kommt diese Sorge?

Amadeus Gräber:

Bei meinem ersten Neunkampf habe ich ogV mit dem Stab gemacht, beim zweiten im Diskus. Seitdem ist da diese konstante Angst. Ich denke darüber nach, es ist einfach präsent im Kopf, aber ich probiere, es mir nicht anmerken zu lassen und einfach das Beste draus zu machen.

Nach dem Stabhochsprung kam der Speerwurf. Da bist du im ersten Versuch an deinem Spike hängen geblieben. Nachwuchs-Bundestrainer Lars Albert hat bei der Abschluss-Teamsitzung gesagt, er habe so etwas noch nie gesehen …

Amadeus Gräber:

Ja, da bin ich umgeknickt. Ich habe es im ersten Moment gar nicht richtig gemerkt. Erst als ich aufgestanden bin und ein bisschen gelaufen und der Schock weg war, habe ich gemerkt: Da ist doch was. Es tut ganz schön weh. Ich habe die zwei letzten Speerwürfe noch gemacht, die waren für mich ziemlich schlecht. Ich hätte gerne mehr rausgeholt, weil ich nicht dachte, dass ich so gute 1.500 Meter laufen kann, schon gar nicht mit dem Fuß.

Wie ging es dir zwischen dem Speerwurf und dem 1.500-Meter-Start?

Amadeus Gräber:

Ich war nach dem Speerwurf zuerst ziemlich am Boden und ziemlich sauer. Dann habe ich probiert, mich zu fokussieren, und habe auch geschlafen. Ich bin die ganze Zeit ruhig gewesen und habe kaum geredet. Im Vorbereitungsraum hatte ich noch ziemliche Fußschmerzen und wusste nicht, wie ich das überhaupt durchstehen sollte. Es wurde dann besser mit den Probeläufen, die wir gemacht haben, als dann auch das Adrenalin so langsam reinkam.

Mit welcher Einstellung hast du dich dann an die Startlinie gestellt: Warst du überzeugt, trotz allem um Gold kämpfen zu können, oder wolltest du den Lauf einfach durchziehen und die Medaille retten?

Amadeus Gräber:

Direkt vor dem Start, bei der Präsentation der Athleten – ich weiß nicht, ob man es gesehen hat –, habe ich gar nichts gemacht, ich stand einfach nur da und habe geguckt. Ich war voll fokussiert auf den Lauf. Ich habe darauf geachtet, dass meinem Fuß während des Laufs nichts passiert, dass ich nicht hinfalle oder auf die Innenbahn trete. Und ich habe versucht, vom Schweden Leo [Göransson] etwas wegzukommen. Von der PB her wäre er schneller gewesen und ich konnte es nicht mit meiner Ehre vereinbaren, dass ich am Ende wegen des Speerwurfs verliere. Ich wusste, dass ich das schaffen kann, aber auch, dass es schwer wird. Ich war entschlossen, dass ich so laufe, dass es reicht. Deswegen war es keine Option, die Medaille einfach nach hinten abzusichern. Ich wollte nach vorne laufen.

Warst du dir im Ziel gleich sicher, dass es gereicht hat? Du hattest deutlichen Vorsprung auf den Franzosen Alexandre Montagne …

Amadeus Gräber:

Nachdem ich im Ziel war, habe ich geguckt und auf den Franzosen gewartet. Da dachte ich mir schon, dass das wahrscheinlich gereicht hat. Ich wollte aber noch nicht jubeln. Ich habe also gewartet und noch mit dem Schweden geredet, der vor dem Lauf noch zu mir gesagt hat: „Möge der Bessere gewinnen.“ Dann kam auch der Este an, Harry [Richard Jääger], mit dem habe ich mich über die zwei Tage ziemlich gut verstanden. Er meinte: „Ich habe dir ja schon vor dem Speerwurf gesagt, dass es so kommen wird.“ Ich stand also da, habe gewartet und die ganze Zeit auf die Anzeigetafel geschaut.

Du hast nach deinem Sieg gesagt, dass du dir eine Glückwunsch-Nachricht von Weltmeister Niklas Kaul wünschst. Hat er sich schon bei dir gemeldet?

Amadeus Gräber:

Ja, hat er tatsächlich! Er hat sich nicht nur gemeldet, er ist mir auch auf Instagram gefolgt. Und auch Frank Busemann [Olympia-Zweiter von 1996], Johannes Erm [estnischer 8.400-Punkte-Zehnkämpfer] und Manuel Eitel [U23-EM-Dritter von 2019 aus Ulm] haben geschrieben und gratuliert.

Als Vorbild im Sport hast du Niklas Kaul genannt – gibt es noch weitere?

Amadeus Gräber:

Außerhalb Deutschlands auf jeden Fall Kevin Mayer. Nicht nur, weil er Weltrekordhalter ist. Er ist ja nicht groß, 1,85 Meter, glaube ich. Somit zwei Zentimeter größer als ich. Ich finde es cool, wie er in den ganzen Disziplinen durch seine Technik überzeugt. Er war in der U18 von seinen Werten her noch nicht vergleichbar mit heute. Im Speerwurf ist es auf jeden Fall Thomas Röhler, weil der neben den anderen Speerwerfern, die ja eher breit gebaut sind, immer so ein bisschen schmächtig aussieht, aber mit guter Technik trotzdem alles rausgeholt hat. Ich glaube, das sind die größten Vorbilder.

Du schaust dir gerne Bestenlisten und Statistiken an, sowohl aus der aktuellen Saison zum Vergleich mit der Konkurrenz, als auch aus den vergangenen Jahren. Nach deinem Sieg wusstest du sofort, dass du als U18-Europameister in die Fußstapfen des Mainzers Manuel Wagner getreten bist, der 2016 gewonnen hat. Inwiefern hilft dir der Vergleich mit den aktuellen Kontrahenten und mit den Spitzenkräften der vergangenen Jahre?

Amadeus Gräber:

Über die Zeit, die ich jetzt Zehnkampf mache, habe ich oft in die deutschen Bestenlisten geguckt. Da tauchen immer wieder dieselben Namen auf. Nach und nach hat sich das dann so angehäuft und man hat gewusst, wer wann welche Rekorde aufgestellt hat. Auf die letzten Jahre zu gucken, hilft insoweit weiter, dass man sich selbst ein bisschen einordnet. Ich gucke schon auch auf die Konkurrenz vor den Wettkämpfen, wo die stark sind und wo nicht so sehr. Ich rechne durch, wo die sich verbessert haben, wo ich mich verbessert habe. Das hilft mir auch mental ein bisschen. Das klingt jetzt komisch, aber das hilft, locker zu bleiben. Weil ich darüber nachdenke und dann ziemlich genau weiß, wo mein Konkurrent gut ist und wo nicht, und im Wettkampf dann auch weiß, wo er sich verbessert hat.

Wie sieht denn dein persönlicher Weg zur Leichtathletik im Allgemeinen und zum Zehnkampf im Besonderen aus?

Amadeus Gräber:

Als ich ganz klein war, habe ich mit Kinder-Leichtathletik angefangen. Damals war ich ein bisschen unsportlich, etwas pummelig und total unbeweglich. Weil ich früher eingeschult wurde, war ich immer der Jüngste und der Kleinste. Ich hatte erst mit Leichtathletik angefangen, bin dann zum Tischtennis gewechselt. Das hat mir keinen Spaß gemacht, weil immer wieder das Gleiche wiederholt wurde. Zwischendurch habe ich mal eine Woche Fußball gespielt, das war aber auch gar nichts für mich.

Irgendwann bin ich wieder zurück zur Leichtathletik gekommen. Am Anfang war es noch so, dass meine Sportlehrerin meinte, dass ich ziemlich unsportlich bin. Sie hat diese Aussage aber später wieder zurückgenommen. Auf den Mehrkampf bin ich dann durch die Blockwettkämpfe gekommen, weil ich doch schon ziemlich ausgewogen in den Disziplinen war. Irgendwann Anfang 2018 sagte mein Trainer [Manfred Hofmann] dann zu mir: „Wir fangen im Winter an mit Stab. Du machst deinen ersten Hallen-Siebenkampf.“ Das war total Neuland für mich.

Ab wann hattest du das Gefühl, du könntest im Mehrkampf erfolgreich sein?

Amadeus Gräber:

Ich denke, so richtig nach der Silbermedaille bei den Deutschen [U16-]Mehrkampf-Meisterschaften in Halle 2020. Ich bin damals Deutscher Vizemeister im Neunkampf hinter Friedrich Schulze geworden, den ich schon ein Jahr vorher beim Quali-Wettkampf für meine ersten Deutschen Meisterschaften getroffen hatte. Ich habe schon da festgestellt, dass er ein ziemlich großer Konkurrent werden könnte. In Halle war Sichtung für die Bundeskader und ich bin später in den NK2-Kader gekommen. Ab da dachte ich: „Es könnte was daraus werden.“ Danach habe ich noch härter gearbeitet.

Wie sieht deine schulische Situation aus?

Amadeus Gräber:

Ich habe gerade mein Abitur gemacht. In der Schulzeit bestand mein Tag nur aus Schule und Training. Ich war nicht auf einer Sportschule, sondern auf einem ganz normalen Gymnasium. Der Schulleiter hat mich sehr unterstützt. Ansonsten weiß ich nicht, ob ich mit den vielen Sportsachen die 50 Prozent Anwesenheitspflicht geschafft hätte, weil ich sehr viel unterwegs war. Seit ich keine Schule mehr habe, bin ich extra früh aufgestanden, um mich auf die Startzeiten in Jerusalem vorzubereiten. 8:30 Uhr ist für mich schon ziemlich früh. Ich habe morgens trainiert und dann gegessen und Mittagsschlaf gemacht. Dann stand die nächste Trainingseinheit bis ca. 17 Uhr an. Wenn ich nach Hause gekommen bin, habe ich oft Videospiele mit Jan [Spieker] gespielt, dem Speerwerfer, der auch in Jerusalem dabei war. Da habe ich mich auch schon gut mit ihm angefreundet.

Mehr:

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