| Disziplin-Check 2020

HÜRDENSPRINT FRAUEN | Kleine Überraschungen und große Lücken

Abgebrochene Trainingslager, phasenweise sportlicher Stillstand, die Olympia-Absage, eine zaghafte Rückkehr ins Training, erste Wettkämpfe und dann doch noch eine Late Season mit einigen bemerkenswerten Leistungen: Die Saison 2020 im Jahr der Corona-Pandemie war eine ganz besondere, die allen Beteiligten viel abverlangt hat. Wir blicken mit den Disziplinverantwortlichen im Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) zurück auf die vergangenen Monate, ziehen Bilanz und wagen einen Ausblick auf die Olympia-Saison 2021. Heute: der Hürdensprint der Frauen.
Silke Bernhart

Fazit des Bundestrainers

Den ersten Teil unserer Fragen beantwortete der langjährige Hürden-Bundestrainer Rüdiger Harksen, der zum Jahresende in den Ruhestand geht. Den zweiten Teil der in die Zukunft gerichteten Fragen beantwortete der Leitende Bundestrainer für die Hürden Volker Beck.

Rüdger Harksen, wie haben Sie persönlich das Corona-Jahr 2020 erlebt  – als Bundestrainer und als Heimtrainer?

Rüdiger Harksen:

Die Saison 2019 war  für viele Athletinnen ein Verletzungs- und Seuchenjahr, daher sind wir mit großen Erwartungen und Zielsetzungen in das Olympiajahr 2020 gegangen. Keiner konnte damit rechnen, dass wir 2020 eine „Seuche“ anderer Art in Form einer Pandemie erleben mussten. Unterschiedliche Öffnungsszenarien an den Bundesstützpunkten ergaben ein regional völlig unterschiedliches Gestalten der Trainingsmethodik. Nachdem Olympia abgesagt wurde, war der Rettungsanker die EM in Paris. Da auch diese internationale Meisterschaft ausfiel, konnten wir im Trainingsbetrieb die Late Season mit der DM in Braunschweig in den Fokus nehmen, die von den Athletinnen in der Mehrzahl dankbar angenommen wurde. Für das Gestalten des Wettkampfszenarios gebührt dem DLV und einigen Meeting-Machern ein großes Lob.

Was waren die größten Herausforderungen für Sie und die deutschen Hürdensprinterinnen?

Rüdiger Harksen:

Wir mussten den Athletinnen in gradueller Abstufung die Motivationsschübe zunächst für Olympia, dann EM und schlussendlich für die DM  geben. Unsere Topathletinnen sind unterschiedlich damit umgegangen. Cindy Roleder sieht nun Mutterfreuden entgegen, wofür ich ihr von ganzem Herzen alles Gute wünsche. Sie wird wiederkommen. Pamela Dutkiewicz nutzte die Zeit mit ihrem Heimtrainer für eine Umstellung der Trainingssystematik, und bei Ricarda Lobe haben wir an kleinen technischen Aspekten gearbeitet, die sich in der Leistungsdarstellung bisher noch nicht widerspiegelten.

Was wir als großes Manko feststellen mussten, war das Fehlen von gemeinsamen Trainingseinheiten in den Trainingslagern. Gerade das gemeinsame wettkampf-affine Starttraining mit starken Partnern und in Kleingruppen hat uns in den vergangen Jahren sehr viel Wettkampfkompetenz gegeben und war einer der Wegbereiter für die tollen Erfolge im letzten Jahrzehnt. Wir hoffen, dass diese Trainingsmöglichkeiten wiederkommen.

Welche Athletinnen haben sich 2020 trotz der veränderten Rahmenbedingungen am positivsten entwickelt?

Rüdiger Harksen:

Den größten Leistungssprung machte in diesem Jahr die noch junge Anne Weigold mit neuer PB und dem Gewinn der Silbermedaille bei der DM. Die Athletin stand schon länger auf der Watch-List, in diesem Jahr gelang ihr der Durchbruch in der Frauenklasse, worüber ich mich für sie und ihren Heimtrainer Michael Sperling sehr gefreut habe.

Volker Beck, wie wollen und können Sie im Team die Kader-Arbeit in Vorbereitung auf die Olympischen Spiele in den kommenden Monaten gestalten?

Volker Beck:

Die drei Kandidatinnen für Tokio werden durch erfahrene Trainer geführt und vorbereitet. Gleichwohl streben wir viele gemeinsame Maßnahmen an, um eine hohe Trainingsqualität zu sichern. Beginnen werden wir aktuell im November mit einer Teamwoche in Kienbaum. Wie alle anderen Disziplinbereiche haben wir pandemiebedingt, unterschiedliche Vorbereitungsszenarien im Team entwickelt und vorbereitet, so dass wir flexibel reagieren können, um den Athletinnen die bestmöglichen Bedingungen für ihre Vorbereitung sicherstellen können. Darüber hinaus werden wir an den Stützpunkten Wattenscheid bzw. Mannheim hürdenspezifisches Partnertraining organisieren, um im Training durch hohe Konkurrenzsituationen notwendige Wettkampfkompetenz zu entwickeln.

Welche Präsenz und Leistung erhoffen Sie sich in Tokio von den deutschen Hürdensprinterinnen?

Volker Beck:

Grundsätzlich möchte ich drei Athletinnen in Tokio am Start sehen. Die Ausgangssituationen können nicht unterschiedlicher sein. Cindy hat die Herausforderung angenommen und möchte nach der Geburt ihres Kindes zu Olympia wieder konkurrenzfähig sein, was ich ihr auf Grund ihrer Erfahrung als langjährige erfolgreiche Hürdensprinterin nicht nur zutraue, sondern wünsche! Pamela Dutkiewicz ist die Athletin, die – Stand heute – mit den besten Vorzeichen in dieses olympische Jahr geht, der Finaleinzug ist das Ziel. Sie hat dieses Jahr genutzt um neue Trainingsreize zu setzten und wird im Olympiajahr davon profitieren. Ricarda Lobe und Rüdiger Harksen haben im technischen Bereich an Kleinigkeiten gearbeitet. Ich denke, dass sich die Ergebnisse dementsprechend einstellen werden und dass wir auch Ricarda bei den Olympischen Spielen sehen werden.

Mit welchen Hoffnungen und Erwartungen blicken Sie aufs Leichtathletik-Jahr 2021

Volker Beck:

Der Fokus liegt natürlich auf Tokio, die Ziele sind beschrieben. Auf gleicher Ebene sehe ich die Gesamtentwicklung der Disziplin, und die bereitet mir in den letzten Jahren erhebliche Sorgen. Uns ist es nicht gelungen, auf den Erfolgen der letzten Jahre den Nachwuchs adäquat zu entwickeln. Hierauf müssen wir verstärkt unsere Anstrengungen richten, um auch zukünftig den Frauen-Hürdensprint erfolgreich aufstellen zu können. Die internationalen Nachwuchsmeisterschaften werden Gradmesser und richtungsweisend sein.

Unser "Ass des Jahres"

Ricarda Lobe (MTG Mannheim)

Deutsche Freiluft-Meisterin 2020
Deutsche Jahresbeste 2020 über 100 Meter Hürden

Unser "Talent des Jahres"

Franziska Schuster (TuS Xanten)

Deutsche U20-Hallenmeisterin 2020 – im Freien als Favoritin mit Fehlstart disqualifiziert
DM-Fünfte der Frauen
Deutsche Jahresbeste 2020 der U20 über 60 und 100 Meter Hürden

Die deutschen Top Ten 2020

Zeit Athletin Jahrgang Verein
13,24 sec Ricarda Lobe 1994 MTG Mannheim
13,31 sec Anne Weigold 1998 LG Mittweida
13,33 sec Monika Zapalska 1994 LC Paderborn
13,39 sec Abigail Adjei 1997 SV GO! Saar 05 Saarbrücken
13,40 sec Carolin Schäfer 1991 LG Eintracht Frankfurt
13,48 sec Sophie Hamann 1996 TuS Metzingen
13,49 sec Anna Maiwald 1990 TSV Bayer 04 Leverkusen
13,58 sec Isabel Mayer 1993 SWC Regensburg
13,60 sec Franziska Schuster 2002 TuS Xanten
13,62 sec Vanessa Hammerschmidt 1998 LG Nord Berlin

Statistik –  Das sagen die Zahlen

Das deutsche Top-Niveau: 100 Meter Hürden

Jahr =/< 12,98 sec* Schnitt Top 3 Schnitt Top 5 Schnitt Top 10
2005 2 12,87 13,03 13,24
2006 1 13,04 13,15 13,31
2007 13,15 13,19 13,28
2008 1 12,98 13,03 13,24
2009 1 12,97 13,10 13,36
2010 3 12,84 12,95 13,16
2011 1 13,07 13,14 13,31
2012 3 12,86 12,99 13,16
2013 1 13,09 13,22 13,38
2014 4 12,79 12,91 13,16
2015 1 12,95 13,09 13,29
2016 3 12,70 12,83 13,06
2017 5 12,77 12,84 13,09
2018 5 12,78 12,85 13,07
2019 2 12,95 13,08 13,25
2020 13,29 13,33 13,44

Jahresbestleistungen im internationalen Vergleich

Jahr Deutschland Europa Diff. Welt Diff.
2005 12,59 (K. Bolm) 12,59 (Bolm/GER) 0,00 12,43 (Perry/USA) 0,16
2006 12,65 (K. Bolm) 12,52 (Kallur/SWE) 0,13 12,43 (Perry/USA) 0,22
2007 13,14 (A. Funck) 12,49 (Kallur/SWE) 0,65 12,44 (Perry/USA) 0,70
2008 12,82 (C. Nytra) 12,50 (Onyia/ESP) 0,32 12,43 (Jones/USA) 0,39
2009 12,78 (C. Nytra) 12,67 (O'Rourke/IRL) 0,11 12,46 (Foster-H./JAM) 0,32
2010 12,57 (C. Nytra) 12,57 (Nytra/GER) 0,00 12,52 (Lopes-Schl./CAN) 0,05
2011 12,91 (C. Roleder) 12,56 (Porter/GBR) 0,35 12,28 (Pearson/AUS) 0,63
2012 12,74 (C. Nytra) 12,54 (Ennis/GBR) 0,20 12,35 (Pearson/AUS) 0,39
2013 12,85 (N. Hildebrand) 12,55 (Porter/GBR) 0,30 12,26 (Rollins/USA) 0,59
2014 12,71 (N. Hildebrand) 12,51 (Porter/GBR) 0,20 12,44 (Harper Nelson/USA) 0,27
2015 12,59 (C. Roleder) 12,56 (Porter/GBR) 0,03 12,34 (Nelvis/USA) 0,25
2016 12,62 (C. Roleder) 12,62 (Roleder/GER) 0,00 12,20 (Harrison/USA) 0,42
2017 12,61 (P. Dutkiewicz) 12,61 (Dutkiewicz/GER) 0,00 12,28 (Harrison/USA) 0,33
2018 12,67 (P. Dutkiewicz) 12,41 (Talay/BLR) 0,26 12,36 (Harrison/USA) 0,31
2019 12,76 (C. Roleder) 12,62 (Visser/NED) 0,14 12,32 (Williams/JAM) 0,44
2020 13,24 (R. Lobe) 12,68 (Visser/NED) 0,56 12,68 (Visser/NED) 0,56

Das fällt auf:

  • In der Halle musste sich Ricarda Lobe noch überraschend Siebenkämpferin Caroline Klein aus Leverkusen geschlagen geben. Im Freien rannte die EM-Fünfte verdient zu ihrem ersten deutschen Meistertitel – eine Genugtuung nach einer Verletzung, auch wenn sie sich eine bessere Zeit erhofft hatte.
  • Apropos Siebenkampf: In den deutschen Top Ten finden sich in diesem Jahr gleich fünf Siebenkämpferinnen, die beste von ihnen: die EM-Dritte Carolin Schäfer (LG Eintracht Frankfurt).
  • Dieses Bild ist eng verbunden mit der Tatsache, dass die beiden besten deutschen Hürdensprinterinnen 2020 im Freien keine Spitzenzeiten verbuchen konnten: Cindy Roleder (SV Halle) ist schwanger und erwartet zum Jahreswechsel ihr erstes Kind, der einzige geplante Auftritt von Pamela Dutkiewicz (TV Wattenscheid 01) endete bei der DM zu früh an der siebten Hürde.
  • Die Lücke hinter ihnen ist auf nationaler Ebene groß, das verdeutlicht ein Blick auf den Schnitt der Top 3, Top 5 und Top 10, der seit Beginn unserer Dokumentation nie höher lag.
  • Auf Weltebene führt mit Nadine Visser erstmals seit 1997 (!) wieder eine Europäerin die Ranglisten an – die zuletzt dominierenden US-Amerikanerinnen und Jamaikanerinnen haben so gut wie keine Wettkämpfe bestritten.

leichtathletik.TV-Clips:

60 Meter Hürden   100/110 Meter Hürden

Die Disziplin-Analysen im Überblick:

Sprint Frauen
Sprint Männer
Langsprint Frauen
Langsprint Männer
Mittelstrecke Frauen
Mittelstrecke Männer
Langstrecke Frauen
Langstrecke Männer

* als Referenzwert dient die WM-Norm des Jahres 2017

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