Abgebrochene Trainingslager, phasenweise sportlicher Stillstand, die Olympia-Absage, eine zaghafte Rückkehr ins Training, erste Wettkämpfe und dann doch noch eine Late Season mit einigen bemerkenswerten Leistungen: Die Saison 2020 im Jahr der Corona-Pandemie war eine ganz besondere, die allen Beteiligten viel abverlangt hat. Wir blicken mit den Disziplinverantwortlichen im Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) zurück auf die vergangenen Monate, ziehen Bilanz und wagen einen Ausblick auf die Olympia-Saison 2021. Heute: der Langsprint der Männer.
Fazit des Bundestrainers
Edgar Eisenkolb, wie haben Sie persönlich das Corona-Jahr 2020 erlebt – als Bundestrainer und als Heimtrainer?
Edgar Eisenkolb:
Dieses Jahr hat mich als Bundestrainer, aber auch als Leitender Landestrainer in Niedersachsen, vor diverse Aufgaben und Herausforderungen gestellt. Die Situation war für uns alle neu. Auf einmal waren wir mitten drin in einem Lockdown, mussten die Absage der Olympischen Spiele und der Europameisterschaften verkraften und uns neu finden. Im Training, aber auch mental.
Der Corona-Alltag war mit meiner Trainingsgruppe um Ruth Spelmeyer und Luna Thiel gut umzusetzen. Wir haben draußen trainiert, sind kreativ geworden und haben uns auch schnell damit beholfen, dass wir jeden Dienstag einen kleinen internen Wettkampf auf die Beine gestellt haben, um etwas die Lücke, die sich coronabedingt aufgetan hat, zu füllen.
Insgesamt haben wir in diesem Jahr alle viel dazugelernt, die Trainer haben viel Kreativität und Flexibilität bewiesen, und auch die Athleten haben gut mitgezogen. Dafür bin ich sehr dankbar.
Was waren die größten Herausforderungen für Sie und die deutschen Langsprinter?
Edgar Eisenkolb:
Die wohl größte Herausforderung war, dass alle Langsprinter an ihren Standorten mit unterschiedlichen Richtlinien zu kämpfen hatten. Welche Trainingsmöglichkeiten konnten sie nutzen? Eine ganz entscheidende Frage im Hinblick auf die Leistungsentwicklung in dieser Saison. Hinzu kam die Ungewissheit der Lage. Wie entwickelt sich die Situation? Können wir später irgendwo starten? Welche Meisterschaften können stattfinden? Diese Ungewissheit auf der einen Seite mit all ihren Fragen, auf die es lange keine Antworten gab, und auf der anderen Seite die Notwendigkeit, die Motivation der Athleten dennoch hoch zu halten – der Umgang mit diesem Spannungsverhältnis war eine große Herausforderung.
Mit diesem Spannungsverhältnis sind die Athleten auch völlig individuell umgegangen. Ich hatte das Gefühl, dass die jüngeren Athleten die Lage relativ schnell gut für sich verarbeiten konnten und einigermaßen relaxed damit umgegangen sind – das mag auch daran liegen, dass das Jahr 2020 noch lange nicht das Ende ihrer Karriere sein sollte. Für kalendarisch und auch trainingsmäßig ältere Athleten, die vielleicht auch die Spiele 2020 als ihre letzten gesehen haben, war die Situation noch etwas schwieriger. Es war eine sehr differenzierte Situation.
Welche Athleten haben sich 2020 trotz der veränderten Rahmenbedingungen am positivsten entwickelt?
Edgar Eisenkolb:
Die Entwicklung von Marvin Schlegel hat mich sehr gefreut. Nach seinem Trainerwechsel vor nunmehr zwei Jahren konnte er an die Leistungen von 2018 anknüpfen und das Niveau sogar noch steigern. Insgesamt ist das Leistungsniveau an der Spitze der Disziplin gut, viele sind ganz nah dran an ihren Bestleistungen – und das unter diesen Umständen, das finde ich bemerkenswert. Deshalb darf ich unterm Strich gar nicht unzufrieden sein.
Dennoch: Zu 100 Prozent bin ich nicht zufrieden. Ja, wir sehen eine leicht positive Entwicklung. Ja, das sind gute Teilschritte auf dem Erfolgsweg. Aber von einer sicheren Teilnahme bei Olympischen Spielen oder Weltmeisterschaften sind wir immer noch ein Stück entfernt. Das soll gar keine Schuldzuweisung an irgendjemanden sein, sondern lediglich die realistische Einschätzung der Lage.
Wie wollen und können Sie die Kader-Arbeit in Vorbereitung auf die Olympischen Spiele in den kommenden Monaten gestalten?
Edgar Eisenkolb:
Ab dem 1. November starten wir im Team mit allen deutschen Sprintern eine Maßnahme in Kienbaum. Das hat bereits im Mai gut geklappt. Unser Plan A ist, dass wir die Vorbereitung auf die Olympischen Spiele mit weiteren Trainingslagern etwa in Clermont, frühen Wettkämpfen und dem Start bei den World Relays angehen und uns danach gezielt auf Tokio einstimmen können. Aber, so realistisch müssen wir auch sein, keiner weiß, ob sich dieser Plan umsetzen lässt.
Daher gibt es auch Plan B. Dieser beinhaltet Trainingsmaßnahmen in Europa, hoffentlich in der Wärme, das ist gerade für den Sprint wichtig. Sollte auch das nicht funktionieren, gibt es Plan C. Dann würde das ganze Training in Deutschland stattfinden, an unterschiedlichen Sportschulen und -stätten. Aber im Team. Das ist ganz wichtig.
Denn unsere Staffel funktioniert eben nur gut, wenn wir ein Team sind und als solches auch menschlich wachsen. Aus diesem Grund gehen wir in unserem ersten Lehrgang gemeinsam klettern. Ein Athlet klettert, der andere sichert ihn am Seil. Dabei erfahren die Athleten sehr direkt, was es heißt, sich auf den anderen verlassen zu können und auf dessen Leistung zu vertrauen, um unser Ziel gemeinsam zu erreichen.
Welche Präsenz und Leistung erhoffen Sie sich in Tokio von den deutschen Langsprintern?
Edgar Eisenkolb:
Bevor wir konkret mit Olympia planen können, müssen wir uns qualifizieren. Wenn wir dann dort sind, wollen und werden wir unser letztes Hemd geben. Wichtig ist, dass wir eine Top-Leistung abliefern, die uns in der Weltrangliste so weit vorn platziert, dass wir für die zukünftigen Weltmeisterschaften eine deutliche stabilere und bessere Ausgangssituation erreichen.
Mit welchen Hoffnungen und Erwartungen blicken Sie aufs Leichtathletik-Jahr 2021?
Edgar Eisenkolb:
Für uns hält das Jahr zwei international wichtige Termine bereit. Zuerst die Staffel WM am 1. Mai – denn dort wollen wir uns für die Olympischen Spiele qualifizieren. Diesen Weg müssen alle deutschen 4x400-Meter-Staffeln noch bestreiten, aber ich will nicht beschönigen, dass die Ausgangslage für die Frauen- und Mixed-Staffel besser aussieht. Dennoch: Wir wollen uns dieser Aufgabe mit aller Kraft stellen.
Zudem stehen wir vor der Problematik, dass die Top-Zeiten auf unserer Strecke nunmal bei den großen Meisterschaften gebracht werden und etwa nicht im Mai. Wenn wir also nicht bei diesen großen Meisterschaften dabei sind, haben wir von vornherein einen Nachteil, Top-Zeiten zu erbringen und uns langfristig einen Platz bei Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften zu sichern. Wir haben aber das Vermögen dazu.
Die Top-Zeiten bei den 4x400-Meter-Staffeln werden bei den internationalen Wettkampf-Höhepunkten gelaufen, in diesem Jahr bei den Olympischen Spielen. Unsere Aufgaben im kommenden Jahr sind also: 1. Qualifikation bei der Staffel-WM für die OS Tokio 2021 und 2. eine Top Zeit der 4x400 Meter Männerstaffel bei den Olympischen Spielen.
Unser "Ass des Jahres"
Marvin Schlegel (LAC Erdgas Chemnitz)
Deutscher Meister über 400 Meter
Deutschlands Jahresbester über 400 Meter
Unser "Talent des Jahres"
Aurelio Maulana (LAC Erdgas Chemnitz)
Der 18-Jährige steigerte seine Bestzeit in diesem Jahr in Wetzlar von 48,75 auf starke 47,16 Sekunden. Bei der U20-DM in Heilbronn holte er nach überstandener Verletzung Silber hinter Max Tank (SC Friedrichsthal).
Die deutschen Top Ten 2020
Zeit | Name | Jahrgang | Verein |
---|---|---|---|
45,80 sec | Marvin Schlegel | 1998 | LAC Erdgas Chemnitz |
46,01 sec | Manuel Sanders | 1998 | LG Olympia Dortmund |
46,12 sec | Patrick Schneider | 1992 | LAC Quelle Fürth |
46,41 sec | Johannes Trefz | 1992 | TSV Gräfelfing |
46,83 sec | Torben Junker | 1993 | LG Olympia Dortmund |
46,87 sec | Tobias Lange | 1993 | TSV Bayer 04 Leverkusen |
47,10 sec | Kevin Joite | 2000 | Dresdner SC 1898 |
47,14 sec | Fabian Dammermann | 1997 | LG Osnabrück |
47,16 sec | Aurelio Maulana | 2002 | LAC Erdgas Chemnitz |
47,34 sec | Justus Baumgarten | 2000 | SCL-Heel Baden-Baden |
Statistik – Das sagen die Zahlen
Das deutsche Top-Niveau: 400 Meter
Jahr | =/< 45,40* | Schnitt Top 3 | Schnitt Top 5 | Schnitt Top 10 |
---|---|---|---|---|
2005 | – | 46,12 | 46,27 | 46,65 |
2006 | – | 45,72 | 45,80 | 46,10 |
2007 | – | 45,65 | 45,91 | 46,29 |
2008 | – | 45,65 | 45,81 | 46,03 |
2009 | – | 45,94 | 45,99 | 46,27 |
2010 | – | 46,08 | 46,23 | 46,43 |
2011 | – | 46,03 | 46,17 | 46,41 |
2012 | – | 46,14 | 46,27 | 46,54 |
2013 | – | 45,79 | 46,01 | 46,40 |
2014 | – | 45,95 | 46,14 | 46,53 |
2015 | – | 46,05 | 46,14 | 46,33 |
2016 | – | 46,01 | 46,14 | 46,44 |
2017 | – | 46,00 | 46,18 | 46,51 |
2018 | – | 45,82 | 45,91 | 46,34 |
2019 | – | 46,08 | 46,18 | 46,46 |
2020 | – | 45,98 | 46,23 | 46,68 |
Jahresbestleistungen im internationalen Vergleich
Jahr | Deutschland | Europa | Diff. | Welt | Diff. |
---|---|---|---|---|---|
2005 | 45,80 (S. Kirch) | 44,56 (Benjamin/GBR) | 1,24 | 43,93 (Wariner/USA) | 1,87 |
2006 | 45,47 (K. Gaba) | 44,91 (Djhone/FRA) | 0,56 | 43,62 (Wariner/USA) | 1,85 |
2007 | 45,44 (B.Swillims) | 44,46 (Djhone/FRA) | 0,98 | 43,93 (Wariner/USA) | 1,99 |
2008 | 45,57 (S. Kirch) | 44,60 (Rooney/GBR) | 0,97 | 43,75 (Merritt/USA) | 1,82 |
2009 | 45,88 (K. Gaba) | 44,74 (Bingham/GBR) | 1,14 | 44,06 (Merritt/USA) | 1,82 |
2010 | 45,92 (K. Gaba) | 44,71 (J. Borlee/BEL) | 1,21 | 44,13 (Wariner/USA) | 1,79 |
2011 | 45,56 (T. Schneider) | 44,74 (K. Borlee/BEL) | 0,82 | 44,35 (Merritt/USA) | 1,21 |
2012 | 45,97 (E. Krüger) | 44,43 (J. Borlee/BEL) | 1,54 | 43,94 (James/GRN) | 2,03 |
2013 | 45,72 (D. Gollnow) | 44,73 (J. Borlee/BEL) | 0,99 | 43,74 (Merritt/USA) | 1,98 |
2014 | 45,63 (K. Gaba) | 44,71 (Rooney/GBR) | 0,92 | 43,74 (James/GRN) | 1,89 |
2015 | 45,96 (A. Gladitz) | 44,45 (Rooney/GBR) | 1,51 | 43,48 (van Niekerk/RSA) | 2,48 |
2016 | 45,94 (A. Gladitz) | 44,48 (Hudson-Smith/GBR) | 1,46 | 43,03 (van Niekerk/RSA) | 2,91 |
2017 | 45,81 (J. Trefz) | 44,74 (Hudson-Smith/GBR) | 1,07 | 43,62 (van Niekerk/RSA) | 2,19 |
2018 | 45,70 (J. Trefz) | 44,63 (Hudson-Smith/GBR) | 1,07 | 43,61 (Norman/USA) | 2,09 |
2019 | 45,86 (M. Sanders) | 44,77 (Re/ITA) | 1,09 | 43,45 (Norman/USA) | 2,41 |
2020 | 45,80 (M. Schlegel) | 45,05 (Warholm/NOR) | 0,75 | 44,91 (Robinson/USA) | 0,89 |
Das fällt auf:
- Corona stoppte die deutschen Viertelmeiler in ihrer Entwicklung nicht. Auch wenn die Athleten in der Summe in diesem Jahr auf weniger Wettkämpfe als gewöhnlich kamen, so waren die Leistungen an der Spitze doch stark. Ein Eindruck, der sich auch mit Zahlen unterfüttern lässt. Der Top Drei-Wert ist ähnlich gut wie vor zwei Jahren. Zieht man den Vergleich der letzten zehn Jahre heran, so ist es seit 2010 der viertbeste Wert.
- Europa und die Welt – sie rückten in diesem Jahr näher heran an Deutschland. Zumindest was den Abstand der deutschen 400-Meter-Sprinter im Vergleich zur kontinentalen und weltweiten Konkurrenz angeht. Hintergrund ist, wen wundert es, die Corona-Pandemie, die in diesem Jahr in vielen Ländern oft nur eingeschränktes Training und auch deutlich weniger Wettkämpfe zuließ. So liegt der Abstand auf die europäische und weltweite Spitze bei unter einer Sekunde und damit so niedrig wie noch nie seit Beginn unserer Aufzeichnungen.
- An der Spitze der Welt steht Justin Robinson. Wer? So werden manche vielleicht denken. Aus gutem Grund, denn der US-Amerikaner ist gerade erst 18 Jahre alt und trat bislang nur bei den Pan-Amerika-Meisterschaften in Erscheinung. Gut möglich aber, dass wir diesen Namen in Zukunft häufiger hören werden.
- Das ersehnte Comeback von Weltrekordler Wayde van Niekerk (Südafrika) wurde in diesem Sommer zunächst von einer Covid19-Infektion gestoppt. Wenige Wochen nach überstandener Infektion lief der 28-Jährige dann eine 45,58 Sekunden über die Stadionrunde und zeigte, dass nach zwei verletzungsbedingten wettkampffreien Jahren noch ein Stück Arbeit vor ihm liegt auf dem Weg zurück zu alter Stärke.
leichtathletik.TV-Clips:
Zu den weiteren Disziplin-Checks:
Sprint Frauen
Sprint Männer
Langsprint Frauen
* als Referenzwert dient die WM-Norm des Jahres 2017