Julia Ritter ließ 2021 kaum einen Kugelstoß-Wettkampf aus und kämpfte bis zum Schluss – letztlich sollten lediglich 15 Zentimeter zur Olympia-Norm fehlen. Obwohl sich ihr Traum von den ersten Spielen nicht erfüllte, ging sie gestärkt aus der Sommer-Saison hervor. Sie verbuchte zwei neue Bestmarken mit Kugel und Diskus und tankte mit konstanten Stößen über 18 Meter gehöriges Selbstvertrauen für das kommende Jahr und einen möglichen Start bei der Heim-EM.
Sie ließ nichts unversucht, um sich ihren Olympia-Traum zu erfüllen. Für die letzte Möglichkeit, um sich für Tokio zu qualifizieren, reiste Julia Ritter (TV Wattenscheid 01) sogar ins benachbarte Dänemark. Bei den dortigen nationalen Meisterschaften zählte für sie kein Titel, nur das Ergebnis. Sie startete außer Konkurrenz – und siegte. Letztlich waren 17,48 Meter aber zu wenig, die Norm lag bei 18,50 Metern. „Meine Beine fühlten sich von den vielen Wettkämpfen einfach zu müde an“, erklärte die 23-Jährige ihre Leistung. Elf Wettkämpfe mit der Kugel hatte sie bis zum Nominierungsschluss auf der Habenseite. Ein ordentliches Pensum. Der erhoffte Ausrutscher nach oben fehlte.
Die finale Jagd auf das Olympia-Ticket kostete Kräfte – mental wie körperlich. Nach ihrem sechsten und letzten Stoß wusste sie, dass ihr Olympia-Traum geplatzt war – ihren Emotionen ließ sie anschließend freien Lauf. „Nach dem Wettkampf in Dänemark habe ich sehr geweint und mich geärgert. Letztlich haben bis Ende Juni nur 15 Zentimeter gefehlt. Schöner wäre es gewesen, es hätten mehr Zentimeter gefehlt, dann hätte es nicht so wehgetan“, blickt die sonst eher froh gelaunte Athletin wehmütig zurück.
Corona-Infektion als Rückschlag
Der Ärger, der Frust über die verpasste Chance verging schnell – und sie schaltete zurück in den Angriffsmodus. „Ich bin eine junge Athletin und kann noch einige Olympische Spiele miterleben. Paris in drei Jahren ist ein wunderbares Ziel, es liegt in der Nähe, sodass man nicht weit fliegen muss. Außerdem möchte ich die Spiele gern mit Zuschauern und ohne die Corona-Pandemie erleben.“
Apropos Corona: Ihre Vorbereitung auf den Olympia-Sommer verlief nicht störungsfrei. „Es war Ostersonntag, ich war bei meiner Familie. Ich hatte schon leichte Symptome eines Schnupfens – meine Nase war verstopft. Zu dem Zeitpunkt habe ich mir keine Gedanken über eine Corona-Infektion gemacht“, berichtet Julia Ritter. Sie machte vorsichtshalber doch einen Test, er fiel positiv aus. Für das Energiebündel ein herber Rückschlag. „Das waren zwei harte Wochen – auch für den Kopf. Ich war eigentlich gut drauf. Die Vorbereitung verlief planmäßig – und du freust dich einfach nur auf den nahenden Saisonstart. Dann kommt plötzlich dieser Schlag, der dich zurückwirft“, erinnert sie sich zurück. Glücklicherweise verlief die Corona-Erkrankung bei ihr recht milde.
Mit Diskus erstmals über 60 Meter
Das fehlende Training bekam sie zum Saisoneinstieg jedoch mächtig zu spüren. Die DM in Braunschweig kam zu früh. Die 18 vor dem Komma mit der Vier-Kilo-Kugel ließ lange auf sich warten. Dafür flog der Diskus bei den Halleschen Werfertagen auf eine neue Bestmarke: 61,29 Meter standen zum Auftakt auf der Anzeige. Darüber zeigte sie sich mehr als überrascht: „Mit dieser Weite hätte ich überhaupt nicht gerechnet. Mein Schwerpunkt im Training liegt auf der Kugel. Diskus läuft nebenbei mit, da komme ich nicht zu sehr über die Kraft, sondern mache viel über die Technik.“
Dennoch war der Wettkampf kein Selbstläufer. Nach den ersten beiden „verunglückten“ Versuchen kam ihr erstmals überhaupt der Gedanke in den Kopf „Ich komme in den Endkampf“. Ein 58er aus dem Dritten ließ sie aufatmen. Das innere Gefühl sagte ihr, das sollte es noch nicht gewesen sein. Es trog nicht, als sie in der fünfte Runde erstmals die Marke von 60 Meter übertraf. Ungeachtet dieser Bestleistung hatte sie die Diskus-Norm für Tokio mit 63,50 Meter schon frühzeitig für sich ausgeschlossen. Der Wettkampf in Halle hatte ihr da schon ihre Grenzen aufgezeigt. Weiter sollte sie sich im weiteren Saisonverlauf nicht steigern.
Osterode sorgt für befreienden Moment
Viel mehr lag ihr Fokus auf dem Kugelstoßen. Ein Geduldsspiel. Es brauchte sechs Wettkämpfe, ehe sie die 18-Meter-Marke übertraf. Beim Internationalen Sparkassenmeeting in Osterode platzte der Knoten. Wie schon im Vorjahr stieß sie die Kugel erneut auf 18,14 Meter, ihr zweiter 18-Meter-Stoß überhaupt. „Das ist eine meiner Lieblingsanlagen. Sie hat eine ganz tolle Optik und ist in sich abgeschlossen. Der Wettkampf gefällt mir einfach, weil es sehr familiär zugeht. Ich wusste, wenn der Knoten dort nicht platzt, dann weiß ich auch nicht.“
Zwei befreiende Momente – erst mit dem Diskus, dann mit der Kugel. Sie startete nochmals in Halle – wenige Tage vor dem Nominierungsschluss. Ein Ort, den sie jetzt mit zwei Bestmarken verbindet. Beim HLF-Wurfmeeting steigerte sie sich mit der Kugel auf 18,35 Meter. „Es gibt einfach schöne Wettkämpfe wie in Halle und Osterode, wo wir Werfer wertgeschätzt werden. In Neustädt beim Kugelcup bin ich auch sehr gerne“, sagt die einstige U20-Europameisterin im Kugelstoßen. Und plötzlich keimte Hoffnung auf: „Ich habe daran geglaubt, die 18,50 Meter noch stoßen zu können. Ich war daraufhin auf der Suche nach Startplätzen und bin noch bei den dänischen Meisterschaften gestartet.“ In Odense platzte dann ihr Olympia-Traum.
Zweite Saisonhälfte bringt reihenweise 18-Meter-Stöße
Im Grunde hätte sie die Saison danach beenden können. Tat sie nicht, die Wettkampf-Tour ging weiter – bis Ende August. Ihre Sommer-Bilanz in einer Zahl: 22. „Die Wettkämpfe haben mir richtig gefehlt. Ich mag einfach auch die Dorf-Wettkämpfe. Das ist alles so schön, die Starterfelder sind klein und man lernt neue Leute kennen. Das werde ich 2022 auch wieder so machen. Je mehr Wettkämpfe desto besser und umso sicherer werde ich.“ Und noch einen Vorteil habe die lange Wettkampfsaison. „Wenn ich früher aufhöre, dann hätte ich eine längere Vorbereitung. Die macht mir am wenigsten Spaß“, sagt sie lachend.
Sie verabschiedete sich Julia Ritter in die Off-Season mit einem guten Gefühl, nachdem sie die Kugel in der zweiten Saisonhälfte mehrfach jenseits der 18-Meter-Marke hatte einschlagen lassen. „Diese Konstanz ist mir viel wichtiger, als wenn ich einmal die Norm übertroffen hätte. Irgendwann wird der Ausreißer kommen. Nächstes Jahr, wenn der Anfang gut läuft“, hofft sie. Kraft dafür tankte sie zuletzt in Süd-Norwegen und an der Côte d´Azur (Frankreich). Sie ging wandern, genoss die Natur und die Ruhe. Einfach mal für sich die freie Zeit genießen, ganz unbeschwert und entspannt.
Große sportliche Ziele, keine Technikumstellung
Schließlich hat Julia Ritter im kommenden Jahr große Ziele: die Heim-EM in München und die WM in Eugene (USA). „München wäre ein Traum. Bei der Heim-EM 2018 in Berlin saß ich als Zuschauerin auf der Tribüne. Jetzt will ich als Athletin im Ring stehen.“ Gleichwohl weiß sie, es wird ein heißer und harter Kampf um die EM-Tickets. Aber sie ist ein Kämpfertyp. Noch einmal soll ihr Traum nicht platzen. „Es gibt fünf, sechs Leute für drei Tickets. Ich werde mein Bestes geben und hoffe, dass ich dann einen der Startplätze bekomme. Wenn ich verletzungsfrei bleibe, dann bin ich guter Hoffnung.“ Ihr erster Sommer bei den Aktiven hat gezeigt, dass es in die richtige Richtung geht. Und das als Angleiterin.
Umstellen wird die einstige U18-Welt- und U20-Europameisterin nicht. Auch wenn sie im Training gelegentlich mal dreht. „Sich umzustellen, das funktioniert nicht von heute auf morgen. Dafür braucht es Zeit. Im nächsten Jahr finden EM und WM statt, den perfekten Zeitpunkt für eine Umstellung gibt es nicht. Ich weiß auch, ich bin nicht die Geduldigste dafür. Momentan sehe ich, es klappt mit meiner Technik. Olympia hat es gezeigt, die Siegerin und Drittplatzierte waren Angleiterinnen.“ Julia Ritter hat ein Umfeld, was sie auf ihrem Weg unterstützt. Ihr Trainer Miroslav Jasinski lässt ihr freie Hand. „Ich bin froh, dass ich ihn habe. Wir können gut miteinander reden und zusammenarbeiten. Er hat zu mir gesagt, ich muss die Kugel stoßen und mich im Ring wohlfühlen. Deshalb möchte ich weiter angleiten.“
Julia Ritter weiß genau, was sie will. Sportlich hat sie ihre Ziele in naher und ferner Zukunft abgesteckt und stets im Blick. Beruflich hat sie ihre Ausbildung bei der Bundespolizei als Polizeimeisterin im Vorjahr abgeschlossen. „Ich mache demnächst noch ein Praktikum am Flughafen. Das wird mir sicherlich wieder viel Spaß bereiten.“ Aber ihr schwirrt noch etwas anderes im Kopf herum, sie liebäugelt mit einer Ausbildung als Polizei-Sanitäterin. „Ich wollte immer schon etwas im Bereich Medizin oder Physiotherapie machen. Außerdem möchte ich gern bei der Polizei bleiben. So könnte ich beides miteinander verbinden. Ich merke, ich brauche wieder etwas für meinen Kopf. Vielleicht gehe ich das beruflich im nächsten oder übernächsten Jahr an“, lässt sie ihren Gedanken freien Lauf. Zuvor will sie sich aber erst einmal sportliche Träume erfüllen.