Abgebrochene Trainingslager, phasenweise sportlicher Stillstand, die Olympia-Absage, eine zaghafte Rückkehr ins Training, erste Wettkämpfe und dann doch noch eine Late Season mit einigen bemerkenswerten Leistungen: Die Saison 2020 im Jahr der Corona-Pandemie war eine ganz besondere, die allen Beteiligten viel abverlangt hat. Wir blicken mit den Disziplinverantwortlichen im Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) zurück auf die vergangenen Monate, ziehen Bilanz und wagen einen Ausblick auf die Olympia-Saison 2021. Heute: das Kugelstoßen der Frauen.
Fazit des Bundestrainers
Sven Lang, wie haben Sie persönlich das Corona-Jahr 2020 erlebt – als Bundestrainer und als Heimtrainer?
Sven Lang:
In dieser Saison war mit einem Schlag alles anders, als wir das bisher kannten und auch gewohnt waren. Die unbekannte Situation stellte uns vor völlig neue Herausforderungen. Die Absage der internationalen Höhepunkte wie Olympische Spiele und Europameisterschaften traf die Athleten schon sehr hart.
Als Bundestrainer habe ich mit Kollegen und Kaderathleten schnellstmöglich Kontakt aufgenommen, um individuelle Lösungen für die einzelnen Athleten und Athletinnen zu finden. Diese waren dann sehr unterschiedlich. So wurde mit einigen, wie beispielsweise mit Christina Schwanitz oder zu Beginn der Saison auch Simon Bayer, abgesprochen, bestehende gesundheitliche Probleme auszukurieren, um dann beschwerdefrei die neue Saison anzugehen. Für die Großzahl galt aber die Parole, sich weiterzuentwickeln und gute Ergebnisse in der Late Season zu zeigen.
Als Heimtrainer ging es anfangs vor allem darum, am Bundesstützpunkt Chemnitz Trainingsmöglichkeiten zu sichern. Dann folgte für die jüngeren Athleten die Zielorientierung auf die Late Season mit den Deutschen Meisterschaften als Höhepunkt.
Was waren die größten Herausforderungen für Sie und die deutschen Kugelstoßerinnen?
Sven Lang:
Eine große Aufgabe bestand darin, schnellstmöglich die Absagen der Höhepunkte zu verarbeiten, neue Ziele zu entwickeln und damit neue Motivation zu schaffen. Wir haben dann versucht, mit Trainingslehrgängen die Situation etwas aufzulockern. Leider mussten diese dann auch jeweils kurzfristig gecancelt werden, was die Sache nicht einfacher machte.
Welche Athletinnen haben sich 2020 trotz der veränderten Rahmenbedingungen am positivsten entwickelt?
Sven Lang:
Bei den Frauen konnte in diesem Jahr vor allem Julia Ritter mit ihrer neuen Bestleistung von 18,14 Metern überzeugen. Auch Yemisi Ogunleye zeigte mit ihren 17,36 Metern, dass in den kommenden Jahren hoffentlich mit unseren jüngeren Athletinnen gerechnet werden kann. Im Nachwuchs ragte Jolina Lange mit der deutschen U16-Bestleistung von 16,96 Metern heraus.
Wie wollen und können Sie die Kader-Arbeit in Vorbereitung auf die Olympischen Spiele in den kommenden Monaten gestalten?
Sven Lang:
Wir werden versuchen, mit den aussichtsreichsten Athletinnen so viel wie möglich in Lehrgängen zu trainieren. Dazu haben wir uns entschlossen, jeden Monat eine Trainingsmaßnahme in Kienbaum bzw. am IAT in Leipzig zu organisieren.
Schon im Oktober hatten wir unsere erste Leistungsdiagnostik in Leipzig, sind dann vom 23. bis 28. November in Kienbaum und werden dies im Dezember in einer gekoppelten Maßnahme am IAT und in Kienbaum weiter fortsetzen. Auch für Januar und Februar sind Trainingsmaßnahmen in Kienbaum vorgesehen.
Welche Präsenz und Leistung erhoffen Sie sich in Tokio von den deutschen Kugelstoßerinnen?
Sven Lang:
Mit Christina Schwanitz haben wir eine Athletin in unseren Reihen, die in den vergangenen Jahren immer einen internationalen Spitzenplatz erreichen konnte. Das erhoffen wir uns natürlich auch bei Olympia 2021. Im Gegensatz zu den Männern sollte es für unsere weiteren Kugelstoßerinnen etwas einfacher erscheinen, die Norm von 18,50 Metern zu knacken. Ich bin optimistisch, dass wir die Reise nach Japan mit drei Frauen antreten werden.
Mit welchen Hoffnungen und Erwartungen blicken Sie aufs Leichtathletik-Jahr 2021?
Sven Lang:
Meine größte Hoffnung ist natürlich, dass weltweit wieder Normalität unser Leben bestimmen kann. Wir im Sport sind ja, wie andere Bereiche auch, von diesen gesellschaftlichen Bedingungen abhängig. Neben der Austragung der Olympischen Spiele hoffe ich auch sehr, dass die Mesterschaften für den Nachwuchs stattfinden können. Hier geht es auch um Zuversicht und Motivation für unsere jungen Athleten.
Unser "Ass des Jahres"
Alina Kenzel (VfL Waiblingen)
Deutsche Meisterin Halle/Freiluft 2020
Nummer 1 der Hallen-Bestenliste (18,14 m)
Nummer 2 der Freiluft-Bestenliste (17,96 m)
Unser "Talent des Jahres"
Jolina Lange (TSV Einheim Grimma)
Deutsche U16-Bestleistung mit der 3-Kilo-Kugel (16,96 m)
Die deutschen Top Ten 2020
Kugelstoßen Frauen
Weite | Name | Jahrgang | Verein |
---|---|---|---|
18,14 m | Julia Ritter | 1998 | TV Wattenscheid |
17,96 m | Alina Kenzel | 1997 | VfL Waiblingen |
17,36 m | Yemisi Ogunleye | 1998 | MTG Mannheim |
16,76 m | Sarah Schmidt | 1997 | LV 90 Erzgebirge |
16,16 m | Hanna Meinikmann | 1999 | TV Wattenscheid 01 |
15,84 m | Lea Riedel | 1999 | VfL Sindelfingen |
15,50 m | Jule Steuer | 2000 | SC Magdeburg |
15,11 m | Ann-Sophie Hinzdorf | 1999 | Hallesche LA-Freunde |
15,09 m | Patrizia Römer | 1998 | ESV Jahn Treysa |
15,05 m | Marie-Theres Bornemeier | 1997 | LG Lipp-Süd |
Statistik – Das sagen die Zahlen
Das deutsche Top-Niveau: Kugelstoßen Frauen
Jahr | >18,00 m (WM-Norm 2017) | Top 3 | Top 5 | Top 10 |
---|---|---|---|---|
2005 | 4 | 19,68 | 19,16 | 18,03 |
2006 | 2 | 18,80 | 18,25 | 17,26 |
2007 | 3 | 19,30 | 18,50 | 17,57 |
2008 | 5 | 19,42 | 19,06 | 17,57 |
2009 | 4 | 19,58 | 18,93 | 17,61 |
2010 | 4 | 19,28 | 18,82 | 17,63 |
2011 | 3 | 18,92 | 18,35 | 17,21 |
2012 | 4 | 19,20 | 18,67 | 17,58 |
2013 | 3 | 19,18 | 18,50 | 17,43 |
2014 | 1 | 18,60 | 18,04 | 17,02 |
2015 | 2 | 18,73 | 18,15 | 17,43 |
2016 | 2 | 18,71 | 18,32 | 17,67 |
2017 | 1 | 17,90 | 17,71 | 17,14 |
2018 | 3 | 18,90 | 17,94 | 17,59 |
2019 | 3 | 18,65 | 18,30 | 17,45 |
2020 | 1 | 17,82 | 17,36 | 16,30 |
Entwicklung der internationalen Jahresbestleistungen
Jahr | Deutschland | Europa | Diff. | Welt | Diff. |
---|---|---|---|---|---|
2005 | 20,06 (N. Kleinert) | 21,09 (Ostabchuk/BLR) | 1,03 | 21,09 (Ostabchuk/BLR) | 1,03 |
2006 | 19,64 (P. Lammert) | 20,56 (Ostabchuk/BLR) | 0,92 | 20,56 (Ostabchuk/BLR) | 0,92 |
2007 | 20,04 (P. Lammert) | 20,48 (Ostabchuk/BLR) | 0,44 | 20,54 (Vili/NZL) | 0,50 |
2008 | 19,89 (N. Kleinert) | 20,98 (Ostabchuk/BLR) | 1,09 | 20,98 (Ostabchuk/BLR) | 1,09 |
2009 | 20,20 (N. Kleinert) | 20,20 (N. Kleinert) | 0,00 | 21,07 (Vili/NZL) | 0,87 |
2010 | 19,64 (N. Kleinert) | 20,95 (Ostabchuk/BLR) | 1,29 | 20,95 (Ostabchuk/BLR) | 1,29 |
2011 | 19,26 (N. Kleinert) | 20,94 (Ostabchuk/BLR) | 1,68 | 21,24 (Vili/NZL) | 1,98 |
2012 | 19,67 (N. Kleinert) | 20,22 (Kolodko/RUS) | 0,62 | 21,11 (Adams/NZL) | 1,48 |
2013 | 20,41 (C. Schwanitz) | 20,41 (C. Schwanitz) | 0,00 | 20,90 (Adams/NZL) | 0,49 |
2014 | 20,22 (C. Schwanitz) | 20,22 (C. Schwanitz) | 0,00 | 20,59 (Adams/NZL) | 0,37 |
2015 | 20,77 (C. Schwanitz) | 20,77 (C. Schwanitz) | 0,00 | 20,77 (C. Schwanitz) | 0,00 |
2016 | 20,17 (C. Schwanitz) | 20,17 (C. Schwanitz) | 0,00 | 20,63 (Carter/USA) | 0,46 |
2017 | 18,46 (S. Gambetta) | 19,63 (Marton/HUN) | 1,17 | 20,11 (Gong/CHN) | 1,65 |
2018 | 20,06 (Schwanitz) | 20,06 (Schwanitz) | 0,00 | 20,38 (Gong/CHN) | 0,32 |
2019 | 19,37 (Schwanitz) | 19,37 (Schwanitz) | 0,00 | 20,31 (Gong/CHN) | 0,94 |
2020 | 18,14 (Ritter) | 19,53 (Dongmo/POR) | 1,39 | 19,53 (Dongmo/POR) | 1,39 |
Das fällt auf:
- Ohne Christina Schwanitz an der Spitze fehlt im deutschen Kugelstoßen der Frauen das ganz große Aushängeschild – auch weil fast eine Generation zwischen der WM-Dritten und ihren mehr als zehn Jahre jüngeren Nachfolgerinnen klafft. Das macht sich auch in den Top 3- bis Top-10-Durchschnittswerten deutlich bemerkbar.
- Gerade im Kugelstoßen der Frauen braucht es Geduld und viele Trainingsjahre bis zum Sprung in die internationale Spitze. Hier sind die deutschen Talente auf einem guten Weg. Alina Kenzel hat in der Halle ihre Bestleistung auf 18,14 Meter gesteigert, die ein Jahr jüngere Julia Ritter kam im Freien ebenso weit.
- 18,46 Meter-Athletin Sara Gambetta hat ebenso wie Christina Schwanitz keine Wettkämpfe bestritten. Sie zählt neben Kenzel und Ritter zu den Athletinnen, die sich Christina Schwanitz zu den Spielen nach Tokio begleiten könnten. Auch Katharina Maisch (LV 90 Erzgebirge), in der Halle auf 17,98 Meter verbessert, ist im Kampf um die Olympia-Tickets und die Olympia-Norm (18,50 m) nicht aussichtslos.
- Die Weltspitze allerdings beginnt erst bei 19 Metern – eine Marke, die 2020 weltweit fünf Athletinnen überbieten konnten. Mit 19,53 Metern beendet erstmals Auriole Dongmo das Jahr als beste Athletin der Welt. Sie ist in Kamerun geboren und seit diesem Jahr für Portugal startberechtigt.
- Das Durchschnittsalter der Top Ten der Welt beträgt 28,5 Jahre, das der deutschen Top Ten liegt mit 21,8 Jahren deutlich darunter.
- Für herausragende Leistungen in der Jugend muss man in die Hallensaison sowie hinunter bis in die U16-Altersklasse schauen: Sina Prüfer steigerte sich mit der 4-Kilo-Kugel auf 16,20 Meter. Jolina Lange verbesserte die deutsche U16-Bestleistung mit der 3-Kilo-Kugel auf 16,96 Meter und ist damit national auch in der U18 die Nummer 1.
leichtathletik.TV-Clips
Die Disziplin-Analysen im Überblick:
Sprint Frauen
Sprint Männer
Langsprint Frauen
Langsprint Männer
Mittelstrecke Frauen
Mittelstrecke Männer
Langstrecke Frauen
Langstrecke Männer
Hürdensprint Frauen
Hürdensprint Männer
Langhürden Frauen
Langhürden Männer
Hindernis Frauen
Hindernis Männer
Hochsprung Frauen
Stabhochsprung Frauen
Stabhochsprung Männer
Weitsprung Frauen
Weitsprung Männer
Dreisprung Frauen
Dreisprung Männer
* als Referenzwert dient die WM-Norm des Jahres 2017