Abgebrochene Trainingslager, phasenweise sportlicher Stillstand, die Olympia-Absage, eine zaghafte Rückkehr ins Training, erste Wettkämpfe und dann doch noch eine Late Season mit einigen bemerkenswerten Leistungen: Die Saison 2020 im Jahr der Corona-Pandemie war eine ganz besondere, die allen Beteiligten viel abverlangt hat. Wir blicken mit den Disziplinverantwortlichen im Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) zurück auf die vergangenen Monate, ziehen Bilanz und wagen einen Ausblick auf die Olympia-Saison 2021. Heute: Speerwurf der Frauen.
Fazit des Bundestrainers
Mark Frank, wie haben Sie persönlich das Corona-Jahr 2020 als Bundestrainer der deutschen Speerwerferinnen und Heimtrainer von Topathleten erlebt?
Mark Frank:
Als Bundestrainer habe ich eine gute Vorbereitung der Kaderathletinnen bis zum Trainingslager Anfang März in Belek begleiten können. Durch Corona kam es dann zum Bruch und es mussten individuelle Lösungen gefunden werden. Das hat unterschiedlich gut funktioniert und hat nicht nur mit den Umgebungsbedingungen zu tun gehabt. Vielmehr war es eine mentale Frage mit der neuen Situation umzugehen, Training alternativ zu gestalten und trotzdem Leistung zu entwickeln.
Besonders schwierig war sicher, da anfangs niemand wusste, was uns tatsächlich erwartet und überhaupt eine Saison stattfinden kann. Glücklicherweise, aus Sicht als Heim- und Bundestrainer, gab es dann doch noch einige Wettkämpfe und somit die Möglichkeit, die Trainingsarbeit in Wettkampfleistung umzusetzen. Das gelang sehr unterschiedlich.
Was waren in diesem Jahr die größten Herausforderungen für Sie und die deutschen Speerwerferinnen?
Mark Frank:
Als Heimtrainer habe ich diese Herausforderung hautnah erlebt. Wir haben das Training bis Ende Mai zu mir nach Hause verlagert. Aus der Garage wurde ein Kraftraum, Würfe mit Bällen und Kugeln wurden an einer improvisierten Wurfwand meiner Hausfassade absolviert und so weiter. Auch hier war die mentale Herausforderung die Größte und die Athleten sind sehr unterschiedlich damit umgegangen. Nach der Saison muss ich sagen, dass die Vorbereitung, die bis dahin sehr gut lief, nachhaltig gestört wurde und einige meiner Heim-Athleten nicht ihr eigentliches Leistungsvermögen abrufen konnten.
Welche Athletinnen haben sich im Jahr 2020 trotz der veränderten Rahmenbedingungen am positivsten entwickelt?
Mark Frank:
Speziell jüngere Athletinnen konnten sich stark in Szene setzen. So hat Lea Wipper, noch zum U20-Jahrgang zählend, eine fantastische Saison abgeliefert und mit einer Spitzenleistung von 57,03 Metern gekrönt. Jana Lowka hat sich ebenfalls gut präsentiert und eine stabile Saison mit 55,38 Metern abgeschlossen. Individuell eine sehr gute Entwicklung. Leonie Tröger zeigte sich sehr stabil und konnte sich auf 57,50 Metern verbessern. Alle drei bilden den Pool für die U23-EM im nächsten Jahr. Dazu kommt Julia Ulbricht, die in diesem Jahr leider gehandicapt und somit nicht im Vollbesitz ihrer Kräfte war. Trotzdem konnte sie die Saison mit 55,43 Metern versöhnlich abschließen und wird im nächsten Jahr sicher zu den Kandidatinnen für Bergen zählen.
Christin Hussong hat gezeigt, dass auch unter schwierigen Bedingungen Top-Leistungen möglich sind, wenngleich sich ihre sehr guten Trainingsleistungen noch nicht voll in den Wettkämpfen widergespiegelt haben. Das lässt aber für die neue Saison hoffen, da sie sich in vielen Zubringerwerten steigern konnte. Annika Fuchs musste sich immer wieder mit kleinen Blessuren herumschlagen und konnte so nicht ganz an die Vorjahresleistungen anknüpfen. Sie ist aber hoch motiviert und möchte das Ticket für Tokio im nächsten Jahr lösen. Christine Winkler konnte sich an die 60-Meter-Marke heranpirschen und wird diese im nächsten Jahr dann hoffentlich übertreffen.
Wie wollen und können Sie die Kader-Arbeit in Vorbereitung auf die Olympischen Spiele in den kommenden Monaten gestalten?
Mark Frank:
Wir wollten die Kaderarbeit fortführen wie in den vergangenen Jahren. Dazu zählen regelmäßige Leistungsdiagnostiken am IAT in Leipzig mit biomechanischer Begleitung von Stefan Erlewein. Außerdem waren zwei Trainingslager in Belek geplant. Corona macht uns aktuell einen Strich durch die Rechnung und wir mussten die erste Diagnostik bereits absagen. Es wird akribisch, unter Mitwirkung aller Kompetenzteams, an Lösungen gearbeitet, um speziell die Trainingslager abzusichern und somit eine vernünftige Vorbereitung auf die Olympiasaison zu gewährleisten.
Ansonsten wird es wieder auf individuelle Lösungen im Trainingsbetrieb hinauslaufen. Dabei ist aber geplant, dass wir uns im Speerwurfteam regelmäßig in Videokonferenzen zu verschieden Themen austauschen. Damit bleibt der Kontakt zu Athletinnen und Kollegen erhalten und der Austausch findet vermehrt auf dieser Ebene statt. Das ist nicht ganz meine Vorstellung von Kaderarbeit, aber wir müssen uns alle mit den Bedingungen arrangieren und Lösungen finden.
Welche Präsenz und Leistung erhoffen Sie sich in Tokio von den deutschen Speerwerferinnen?
Mark Frank:
Unabhängig von den erschwerten Bedingungen erwarte ich trotzdem konkurrenzfähige Athletinnen bei den Spielen. Das Training an den Stützpunkten wird für die Bundeskader, soweit es Corona zulässt, weiter möglich sein. Alle wissen, was auf sie zukommen kann. Mit den Erfahrungswerten aus dieser Saison muss es uns gelingen, konkurrenzfähig in die Saison 2021 zu kommen. Ich bin mir sicher, dass die Olympischen Spiele stattfinden werden. Ausreichend Motivation sollte damit gegeben sein.
Eine sichere Tokio-Kandidatin ist Christin Hussong, die die Normleistung bereits erbracht hat und in Tokio ein Wörtchen bei der Medaillenvergabe mitreden möchte. Annika Fuchs sind die 64 Meter für die Qualifikation durchaus zuzutrauen, wenn sie gesund durch die Vorbereitung kommt. Ein Finalplatz ist dann durchaus denkbar. Aktuell sind das die beiden Werferinnen, die die deutschen Farben vertreten können. Sollte sich überraschend eine Dritte anbieten, werde ich mich nicht beschweren.
Mit welchen Hoffnungen und Erwartungen blicken Sie aufs Leichtathletik-Jahr 2021?
Mark Frank:
Die Hoffnung bleibt, dass wir weitestgehend normale Trainingsbedingungen für die Kaderathletinnen ermöglichen können. Die Umsetzung der geplanten Trainingslager im März und April in Belek wären aus meiner Sicht elementare Notwendigkeiten einer gezielten Vorbereitung. Und am Ende sollte eine vernünftige Wettkampfsaison als Vorbereitung für die Spiele möglich sein.
Aber nicht nur die Olympischen Spiele werfen ihre Schatten voraus. Es erwarten uns im nächsten Jahr weitere internationale Höhepunkte. So möchte ich drei starke Werferinnen zur U23-EM entsenden. Nach den Entwicklungen in diesem Jahr scheint das eine sehr realistische Vorstellung. Wenn die jungen Wilden gut durch die Vorbereitung kommen, können wir hoffentlich bald die eine oder andere Athletin im 60-Meter-Klub begrüßen. Im Jugend-Bereich stehen U18-EM, U20-EM und U20-WM auf dem Wettkampfplan. Auch dort haben wir hoffnungsvolle Athletinnen in den Startlöchern.
Die Saison 2021 ist also gespickt mit leichtathletischen Leckerbissen. Inwiefern das alles so kommt wie gewünscht liegt nur bedingt in unserer Hand. Bis dahin werden wir uns so gut es geht vorbereiten und dann hoffentlich zeigen dürfen, dass auch unter schwierigen Bedingungen Höchstleistungen entwickelt werden können. Dafür wünsche ich allen Athleten, Athletinnen und ihren Trainern und Trainerinnen alles Gute und viel Erfolg. Vor allem aber Gesundheit!
Unser "Ass des Jahres"
Christin Hussong (LAZ Zweibrücken)
Deutsche Meisterin 2020
Nummer acht der Weltjahresbestenliste mit 64,10 m
Sieben Siege bei acht Saisonstarts
Unser "Talent des Jahres"
Lea Wipper (SC DHfK Leipzig)
DM-Dritte bei den Frauen
Deutsche U20-Meisterin
Nummer sechs der U20-Weltjahresbestenliste mit 57,03 m
Die deutschen Top Ten 2020
Speerwurf Frauen
Weite | Name | Jahrgang | Verein |
---|---|---|---|
64,10 m | Christin Hussong | 1994 | LAZ Zweibrücken |
60,20 m | Annika Marie Fuchs | 1997 | SC Potsdam |
59,70 m | Christine Winkler | 1995 | SC DHfK Leipzig |
57,50 m | Leonie Tröger | 2000 | Hallesche LAF |
57,03 m | Lea Wipper | 2001 | SC DHfK Leipzig |
55,63 m | Jana Marie Lowka | 2000 | LG Eintracht Frankfurt |
55,43 m | Julia Ulbricht | 2000 | 1.LAV Rostock |
55,16 m | Dana Bergrath | 1994 | TSV Bayer 04 Leverkusen |
51,21 m | Lisa Weißbach | 1998 | Dresdner SC |
51,16 m | Sabrina Schröder | 2000 | LAV Bayer Uerdingen/Dormagen |
Statistik – Das sagen die Zahlen
Das deutsche Top-Niveau: Speerwurf Frauen
Jahr | <= 61,40* (WM-Norm 2017) | Schnitt Top 3 | Schnitt Top 5 | Schnitt Top 10 |
---|---|---|---|---|
2005 | 2 | 65,10 | 62,21 | 59,23 |
2006 | 2 | 64,39 | 62,68 | 59,83 |
2007 | 3 | 66,26 | 63,96 | 60,89 |
2008 | 4 | 68,07 | 64,98 | 60,49 |
2009 | 4 | 66,58 | 64,49 | 60,83 |
2010 | 3 | 66,66 | 64,25 | 59,85 |
2011 | 2 | 65,01 | 62,83 | 59,70 |
2012 | 3 | 65,05 | 62,68 | 59,67 |
2013 | 3 | 66,12 | 63,01 | 59,63 |
2014 | 3 | 64,69 | 61,91 | 58,65 |
2015 | 4 | 66,09 | 63,95 | 58,92 |
2016 | 4 | 65,54 | 63,44 | 58,93 |
2017 | 2 | 62,58 | 59,62 | 55,27 |
2018 | 2 | 63,47 | 60,50 | 56,92 |
2019 | 2 | 61,99 | 59,38 | 56,43 |
2020 | 1 | 61,33 | 59,71 | 56,71 |
Entwicklung der internationalen Jahresbestleistungen
Jahr | Deutschland | Europa | Diff. | Welt | Diff. |
---|---|---|---|---|---|
2005 | 70,03 (C. Obergföll) | 70,03 (C. Obergföll) | 0,00 | 71,70 (Menendez/CUB) | 1,67 |
2006 | 66,91 (C. Obergföll) | 66,91 (C. Obergföll) | 0,00 | 66,91 (C. Obergföll) | 0,00 |
2007 | 70,20 (C. Obergföll) | 70,20 (C. Obergföll) | 0,00 | 70,20 (C. Obergföll) | 0,00 |
2008 | 69,81 (C. Obergföll) | 72,28 (Spotakova/CZE) | 2,47 | 72,28 (Spotakova/CZE) | 2,47 |
2009 | 68,59 (C. Obergföll) | 68,92 (Abakumova/RUS) | 0,33 | 68,92 (Abakumova/RUS) | 0,33 |
2010 | 68,63 (C. Obergföll) | 68,89 (Abakumova/RUS) | 0,26 | 68,89 (Abakumova/RUS) | 0,26 |
2011 | 69,57 (C. Obergföll) | 71,99 (Abakumova/RUS) | 2,42 | 71,99 (Abakumova/RUS) | 2,42 |
2012 | 67,04 (C. Obergföll) | 69,55 (Spotakova/CZE) | 2,51 | 69,55 (Spotakova/CZE) | 2,51 |
2013 | 69,05 (C. Obergföll) | 70,53 (Abakumova/RUS) | 1,48 | 70,53 (Abakumova/RUS) | 1,48 |
2014 | 67,32 (L. Stahl) | 67,99 (Spotakova/CZE) | 0,77 | 67,99 (Spotakova/CZE) | 0,77 |
2015 | 67,69 (K. Molitor) | 67,69 (Molitor/GER) | 0,00 | 67,69 (Molitor/GER) | 0,00 |
2016 | 66,41 (C. Hussong) | 67,11 (Andrejczyk/POL) | 1,70 | 67,11 (Andrejczyk/POL) | 1,70 |
2017 | 65,37 (K. Molitor) | 68,43 (Kolak/CRO) | 3,06 | 68,43 (Kolak/CRO) | 3,06 |
2018 | 67,90 (C. Hussong) | 67,90 (Hussong/GER) | 0,00 | 68,92 (Mitchell/AUS) | 1,02 |
2019 | 66,59 (C. Hussong) | 67,40 (Ogrodnikova/CZE) | 0,81 | 67,98 (Lu/CHN) | 1,39 |
2020 | 64,10 (C. Hussong) | 67,17 (Khaladovich/BLR) | 3,07 | 67,61 (Lu/CHN) | 3,51 |
Das fällt auf:
- Christin Hussong bleibt unangefochten die Nummer eins in Deutschland. Die amtierende Europameisterin führt zum dritten Mal in Folge die deutsche Bestenliste an.
- Erfreulich: Fünf der besten zehn deutschen Speerwerferinnen 2020 gehören den Jahrgängen 2000 und 2001 an. Das zeigt: Es rücken einige talentierte Speerwerferinnen nach. Allen voran die DM-Dritte Lea Wipper.
- Trotz der schwierigen Corona-Saison sind der Top-5- und Top-10-Schnitt im Vergleich zum Vorjahr leicht gestiegen. Allerdings bleiben sie auf niedrigem Niveau. Der Grund: Mit Christin Hussong und Annika Marie Fuchs gab es 2020 nur zwei Speerwerferinnen, die weiter als 60 Meter warfen.
- Zwar hat diese Saison auch international keine große Aussagekraft. Doch Fakt ist: Der Rückstand zur Weltspitze ist mit 3,51 Metern so groß wie in den vergangenen 15 Jahren nicht. Angeführt von der Chinesin Lu Huihui übertrafen 2020 weltweit gleich drei Werferinnen die 67-Meter-Marke und brachten sich so schon einmal in Position für die Olympischen Spiele im kommenden Sommer.
leichtathletik.TV-Clips
Die Disziplin-Analysen im Überblick:
Sprint Frauen
Sprint Männer
Langsprint Frauen
Langsprint Männer
Mittelstrecke Frauen
Mittelstrecke Männer
Langstrecke Frauen
Langstrecke Männer
Hürdensprint Frauen
Hürdensprint Männer
Langhürden Frauen
Langhürden Männer
Hindernis Frauen
Hindernis Männer
Hochsprung Frauen
Stabhochsprung Frauen
Stabhochsprung Männer
Weitsprung Frauen
Weitsprung Männer
Dreisprung Frauen
Dreisprung Männer
* als Referenzwert dient die WM-Norm des Jahres 2017