Abgebrochene Trainingslager, phasenweise sportlicher Stillstand, die Olympia-Absage, eine zaghafte Rückkehr ins Training, erste Wettkämpfe und dann doch noch eine Late Season mit einigen bemerkenswerten Leistungen: Die Saison 2020 im Jahr der Corona-Pandemie war eine ganz besondere, die allen Beteiligten viel abverlangt hat. Wir blicken mit den Disziplinverantwortlichen im Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) zurück auf die vergangenen Monate, ziehen Bilanz und wagen einen Ausblick auf die Olympia-Saison 2021. Heute: Frauen-Hochsprung.
Fazit des Bundestrainers
Tamás Kiss, wie haben Sie persönlich das Corona-Jahr 2020 als Bundestrainer und Heimtrainer erlebt?
Tamás Kiss:
Es ist bereits einige Zeit seit den Anfängen der Coronavirus-Einschränkungen im Frühjahr vergangen. Doch kann ich mich noch gut daran erinnern, als wir alle Einheiten aufgrund der geschlossen Trainingshalle im Freien absolviert haben. Erstmal bedeutet so eine neue Situation nicht unbedingt etwas Schlechtes, aber wer will schon bei einer wichtigen Olympia-Vorbereitung mit einem komplett anderen Trainingsaufbau experimentieren?
Nachdem im Frühjahr schon alle geplanten Trainingslager abgesagt wurden, sind auch bei mir Spuren der Ratlosigkeit bezüglich der reibungslosen Vorbereitung für die Olympischen Spiele entstanden. Das Einstellen des gewöhnlichen Trainingsbetriebes und der Wettkämpfe stellten eine sehr schwierige Situation gleichermaßen für Sportler und Trainer dar.
Was waren in diesem Jahr die größten Herausforderungen für Sie und die deutschen Hochspringerinnen?
Tamás Kiss:
Wie es von den vielen Kaderathletinnen, Trainerkolleginnen und -kollegen berichtet wurde, gab es bundesweit unterschiedliche Bedingungen, um das gewohnte Trainingspensum zu absolvieren. Die Sperrung der Trainingsstätten und der Krafträume stellten uns vor große Herausforderungen. Auch die Umstellung in der Umsetzung zielführender Trainingsmaßnahmen stand uns bevor. Vor allem war es die große Unsicherheit um das eigentliche Stattfinden der Olympischen Spiele 2020.
Nach dem Verlegen der Spiele auf das nächste Jahr konnte ich endlich mit den Athletinnen und mit den Heimtrainerkollegen über eine kurz- und/oder langfristige Trainingsplanung ins Gespräch kommen. Vor allem war es für die Athletinnen schwierig, den Sommer ohne große Ziele und mit wenig Wettkämpfen so zu gestalten, dass sie dabei die Motivation und die Freude an ihrem Sport nicht verlieren.
Welche Athleten haben sich im Jahr 2020 trotz der veränderten Rahmenbedingungen am positivsten entwickelt?
Tamás Kiss:
Eine sehr erfreuliche Entwicklung und Formstabilisierung ist bei der aktuellen Deutschen Meisterin Christina Honsel zu beobachten. Mit einer Bestleistung von 1,92 Metern etabliert sie sich gerade zu einer sehr hoffnungsvollen Athletin, von der in der Zukunft noch eine größere Leistungssteigerung zu erwarten ist. Vielleicht kommt ihr die Verschiebung der Olympischen Spiele zugute und sie kann sich in der kommenden Saison für Tokio qualifizieren. Zuzutrauen würde ich ihr das auf alle Fälle.
Die beiden Hochspringerinnen Imke Onnen und Marie-Laurence Jungfleisch, die bereits die Norm überboten haben, nutzten die vergangene Saison als Rehabilitation, um Verletzungen behandeln zu lassen. Inzwischen sind sie beschwerdefrei und auf einem sehr guten Weg, sich für die Hallen-Wettkämpfe vorzubereiten.
Wie wollen und können Sie die Kader-Arbeit in Vorbereitung auf die Olympischen Spiele in den kommenden Monaten gestalten?
Tamás Kiss:
Es finden regelmäßig Dialoge innerhalb des Sprungteams und mit den Athletinnen und ihren Trainerinnen und Trainer über die aktuelle Trainingssituation statt. Außerdem sind bis Jahresende ein gemeinsames Trainingslager in Kienbaum und eine Maßnahme mit Messplatztraining in Leverkusen geplant. Leider waren wir coronabedingt gezwungen, den Eröffnungslehrgang im November in Stuttgart abzusagen. Ich hoffe aber auf die Umsetzung der weiteren Maßnahmen.
Welche Präsenz und Leistung erhoffen Sie sich in Tokio von den deutschen Hochspringerinnen und mit welchen Hoffnungen und Erwartungen blicken Sie aufs Leichtathletik-Jahr 2021?
Tamás Kiss:
Ich blicke hoffungsvoll und mit einer großen Erwartungshaltung auf das Olympiajahr 2021. Wenn unsere beiden Top-Hochspringerinnen gesund bleiben, können in Tokio im olympischen Finale mit Bestleistungen wertvolle Platzierungen erreicht werden.
Unser "Ass des Jahres"
HALLE
Imke Onnen (Hannover 96)*
Deutsche Jahresbestleistung und Olympia-Norm (1,96 m)
FREILUFT
Christina Honsel (TV Wattenscheid 01)
Deutsche Meisterin im Freien
Nummer 13 in der Weltjahresbestenliste
Zweimal über 1,90 Meter in der kurzen Sommersaison
Unser "Talent des Jahres"
Jara Ellinger (TSG Heilbronn)
Deutsche U20-Meisterin im Freien
Steigerung der Bestleistung um neun Zentimeter innerhalb eines Jahres
Die deutschen Top Ten 2020
Höhe | Name | Jahrgang | Verein |
---|---|---|---|
1,90 m | Christina Honsel | 1997 | TV Wattenscheid 01 |
1,87 m | Alexandra Plaza | 1994 | LT DSHS Köln |
1,84 m | Lavinja Jürgens | 2000 | TSV Kranzegg |
1,83 m | Jara Ellinger | 2001 | TSG Heilbronn |
1,83 m | Lale Eden | 1998 | Hannover 96 |
1,83 m | Bianca Stichling | 2000 | TSG Weinhein |
1,82 m | Jördis Kriegel | 2000 | SV Winnenden |
1,81 m | Laura Gröll | 1998 | LG Stadtwerke München |
1,81 m | Janina Lange | 1997 | MTV Lübeck |
1,81 m | Blessing Enatoh | 2002 | TSV Spandau |
Statistik – Das sagen die Zahlen
Das deutsche Top-Niveau
Jahr | ≥ 1,94** | Schnitt Top 3 | Schnitt Top 5 | Schnitt Top 10 |
---|---|---|---|---|
2005 | – | 1,90 | 1,89 | 1,86 |
2006 | – | 1,91 | 1,90 | 1,87 |
2007 | – | 1,91 | 1,89 | 1,86 |
2008 | 1 | 1,95 | 1,92 | 1,89 |
2009 | 1 | 1,97 | 1,94 | 1,90 |
2010 | 1 | 1,93 | 1,91 | 1,87 |
2011 | – | 1,89 | 1,87 | 1,86 |
2012 | 1 | 1,92 | 1,90 | 1,87 |
2013 | 1 | 1,91 | 1,90 | 1,86 |
2014 | 1 | 1,90 | 1,87 | 1,85* |
2015 | 1 | 1,93 | 1,90 | 1,87* |
2016 | 1 | 1,92 | 1,90 | 1,87* |
2017 | 1 | 1,93 | 1,90 | 1,86* |
2018 | 1 | 1,93 | 1,90 | 1,87* |
2019 | 2 | 1,94 | 1,89 | 1,84 |
2020 | – | 1,87 | 1,85 | 1,84 |
*nur international für Deutschland startende Athletinnen
Jahresbestleistungen im internationalen Vergleich
Jahr | Deutschland | Europa | Diff. | Welt | Diff. |
---|---|---|---|---|---|
2005 | 1,90 (D. Rath; A. Friedrich; B. Kähler) | 2,03 (Bergqvist/SWE) | 0,13 | 2,03 (Bergqvist/SWE) | 0,13 |
2006 | 1,91 (M. Skotnik; J. Hartmann; A. Friedrich) | 2,06 (Bergqvist/SWE) | 0,15 | 2,06 (Bergqvist/SWE) | 0,15 |
2007 | 1,94 (A. Friedrich) | 2,07 (Vlasic/CRO) | 0,13 | 2,07 (Vlasic/CRO) | 0,13 |
2008 | 2,03 (A. Friedrich) | 2,06 (Vlasic/CRO) | 0,03 | 2,06 (Vlasic/CRO) | 0,03 |
2009 | 2,06 (A. Friedrich) | 2,08 (Vlasic/CRO) | 0,02 | 2,08 (Vlasic/CRO) | 0,02 |
2010 | 2,02 (A. Friedrich) | 2,05 (Vlasic/CRO) | 0,03 | 2,05 (Vlasic/CRO; Howard Lowe/USA) | 0,03 |
2011 | 1,93 (M.- L. Jungfleisch) | 2,07 (Chicherova/RUS) | 0,14 | 2,07 (Chicherova/RUS) | 0,14 |
2012 | 1,95 (M.- L. Jungfleisch) | 2,05 (Chicherova/RUS) | 0,10 | 2,05 (Chicherova/RUS) | 0,10 |
2013 | 1,95 (M.- L. Jungfleisch) | 2,03 (Shkolina/RUS) | 0,09 | 2,04 (Barrett/USA) | 0,10 |
2014 | 1,97 (M.- L. Jungfleisch) | 2,01 (Chicherova/RUS; Beitia/ESP) | 0,04 | 2,01 (Chicherova/RUS; Beitia/ESP) | 0,04 |
2015 | 1,99 (M.- L. Jungfleisch) | 2,03 (Chicherova/RUS) | 0,04 | 2,03 (Chicherova/RUS) | 0,04 |
2016 | 2,00 (M.- L. Jungfleisch) | 2,00 (M.-L. Jungfleisch) | 0,00 | 2,01 (Lowe/USA) | 0,01 |
2017 | 2,00 (M.- L. Jungfleisch) | 2,06 (Lasitskene/ANA) | 0,06 | 2,06 (Lasitskene/ANA) | 0,06 |
2018 | 1,96 (M.- L. Jungfleisch) | 2,04 (Lasitskene/ANA) | 0,08 | 2,04 (Lasitskene/ANA) | 0,08 |
2019 | 1,96 (M.- L. Jungfleisch) | 2,06 (Lasitskene/ANA) | 0,10 | 2,06 (Lasitskene/ANA) | 0,10 |
2020 | 1,90 (Honsel) | 2,00 (Levchenko/UKR; Mahuchikh/UKR) | 0,10 | 2,00 (Levchenko/UKR; Mahuchikh/UKR) | 0,10 |
Das fällt auf:
- Die beiden deutschen Spitzen-Hochspringerinnen Marie-Laurence Jungfleisch und Imke Onnen treten in der "Corona-Sommersaison" nicht in Erscheinung und kurieren Verletzungen aus. Das macht sich in den sinkenden Durchschnittshöhen bemerkbar. Allerdings darf man nicht vergessen: In der Hallensaison katapultierte sich Imke Onnen mit 1,96 Metern in die Weltspitze.
- Christina Honsel nutzt die Gunst der Stunde. Mit 1,90 Metern ist die Deutsche Meisterin national die Nummer eins und löst Marie-Laurence Jungfleisch an der Spitze ab, die neunmal in Folge die deutsche Bestenliste anführte.
- In der U20 steigert sich Jara Ellinger um neun Zentimeter auf 1,83 Meter und gewinnt den U20-DM-Titel.
- Auch international machen sich die Auswirkungen der Corona-Pandemie bemerkbar. Nur Teenager Yaroslava Mahuchikh und Yuliya Levchenko (beide Ukraine) meistern 2020 im Freien die 2,00 Meter. So bleibt der Abstand von der nationalen Spitze zur Weltspitze mit zehn Zentimetern konstant.
- Die unter neutraler Flagge startende Russin Mariya Lasitskene war von 2017 bis 2019 im Frauen-Hochsprung das Maß der Dinge. Im Sommer 2020 ist die dreimalige Weltmeisterin aufgrund der Anti-Doping-Verfehlungen Russlands nicht startberechtigt. Die beste Hochspringerin des Jahres ist sie trotzdem: mit 2,05 Metern aus der Hallensaison.
leichtathletik.TV-Clips zum Hochsprung
Die Disziplin-Analysen im Überblick:
Sprint Frauen
Sprint Männer
Langsprint Frauen
Langsprint Männer
Mittelstrecke Frauen
Mittelstrecke Männer
Langstrecke Frauen
Langstrecke Männer
Hürdensprint Frauen
Hürdensprint Männer
Langhürden Frauen
Langhürden Männer
Hindernis Frauen
Hindernis Männer
* Imke Onnen wurde nachträglich ergänzt. Ihre Hallen-Leistung, gleichbedeutend mit Olympia-Norm, war in der ersten Textversion nicht berücksichtigt worden, da bisher Freiluft-Leistungen den Vorrang vor Hallen-Leistungen hatten. In diesem Fall ist jedoch die eindeutig beste Leistung des Jahres in der Halle erzielt worden, sodass sie hier auch hervorgehoben werden soll.
** als Referenzwert dient die WM-Norm des Jahres 2017