Abgebrochene Trainingslager, phasenweise sportlicher Stillstand, die Olympia-Absage, eine zaghafte Rückkehr ins Training, erste Wettkämpfe und dann doch noch eine Late Season mit einigen bemerkenswerten Leistungen: Die Saison 2020 im Jahr der Corona-Pandemie war eine ganz besondere, die allen Beteiligten viel abverlangt hat. Wir blicken mit den Disziplinverantwortlichen im Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) zurück auf die vergangenen Monate, ziehen Bilanz und wagen einen Ausblick auf die Olympia-Saison 2021. Heute: der Stabhochsprung der Frauen.
Fazit des Bundestrainers
Stefan Ritter, wie haben Sie persönlich das Corona-Jahr 2020 erlebt – als Bundestrainer und als Heimtrainer?
Stefan Ritter:
Die Pandemie kam auch für mich sehr überraschend. Wir hatten gerade eine Woche im Trainingslager im südafrikanischen Stellenbosch verbracht, als wir die Nachricht bekamen, dass alle Beteiligten nach Deutschland zurückmüssen. Zurück in Potsdam war dann recht schnell klar, dass nur eine Sportlerin von mir vor Ort trainiert werden durfte. Alle anderen mussten nach Hause und konnten nur alternativ Sport treiben. Damit war es sehr schwer zu überblicken, ob und in welcher Form eine Wettkampfsaison stattfinden konnte. Zum Glück war es dann aber doch möglich, einige wenige Wettkämpfe zu absolvieren. Auf der anderen Seite war es ein sehr erholsames Jahr, da die meisten Reisen zu Wettkämpfen, Lehrgängen und Trainingslagern wegfielen. So viele freie Wochenenden haben wir Trainer im Jahr sonst nie.
Was waren die größten Herausforderungen für Sie und die deutschen Stabhochspringerinnen?
Stefan Ritter:
Ich denke, dass die Ungewissheit am schlimmsten war. Es konnte lange niemand sagen, ob es Wettkämpfe geben wird. Dadurch war eine gute Vorbereitung nur begrenzt möglich, da es kein konkretes Ziel vor Augen gab. Zudem musste sich der Großteil der Sportlerinnen Alternativen suchen, um sich fit zu halten und mit den Rahmenbedingungen zurechtzukommen.
Welche Athletinnen haben sich 2020 trotz der veränderten Rahmenbedingungen am positivsten entwickelt?
Stefan Ritter:
Im Erwachsenenbereich war es Ria Möllers, die mit ihrer neuen persönlichen Bestleistung und dem geteilten Titel bei der DM in Braunschweig den größten Sprung machen konnte. In der U20 gab es einige gute Entwicklungen. So konnte Moana-Lou Kleiner (4,20 m) ihre starken Leistungen aus der Hallensaison trotz sehr kurzer Freiluftsaison bestätigen. Auch Ella Buchner konnte sich im Sommer auf 4,20 Meter steigern. In der U18 gab es mit Lena Zintl (4,12 m), Janne Orth (4,10 m) und Maybrit Sommer (4,00 m) gleich drei Mädels mit Sprüngen über vier Meter.
Wie wollen und können Sie die Kader-Arbeit in Vorbereitung auf die Olympischen Spiele in den kommenden Monaten gestalten?
Stefan Ritter:
Im Normalfall hätten wir einen Lehrgang und ein gemeinsames Trainingslager absolviert, diese Möglichkeiten fallen aber definitiv weg. Mit den aktuellen Beschränkungen müssen wir schauen, in welcher Form ein Besuch beim Training möglich ist. Alternativ bleibt nur der Kontakt per Telefon, Mail oder Videocall.
Welche Präsenz und Leistung erhoffen Sie sich in Tokio von den deutschen Stabhochspringerinnen?
Stefan Ritter:
Die größten Chancen auf eine Teilnahme in Tokio hat Lisa Ryzih. Ich wünsche mir, dass sie es bei den Olympischen Spielen ins Finale schafft und dort wird sich dann zeigen, was möglich ist. Zudem wäre ich sehr glücklich, wenn wir auch noch weitere Athletinnen nach Tokio schicken dürften.
Mit welchen Hoffnungen und Erwartungen blicken Sie aufs Leichtathletik-Jahr 2021
Stefan Ritter:
Ich wünsche mir, dass alle Athleten und Athletinnen gesund bleiben und sich gut auf die Saison vorbereiten können. Dann rückt das Leistungsniveau in Deutschland und hoffentlich auch das internationale Leistungsniveau wieder enger zusammen.
Unser "Ass des Jahres"
Stefanie Berndorfer (geb. Dauber; SSV Ulm 1846)
Deutsche Meisterin im Freien 2020
Deutsche Hallen-Vizemeisterin 2020
Mit 4,46 Meter beste Hallen-Leistung in diesem Jahr
Unser "Talent des Jahres"
Leni Freyja Wildgrube
Platz fünf in der deutschen Jahresbestenliste
U20-Meisterin 2020 im Freien
Jahresbeste in der Altersklasse U20
Die deutschen Top Ten 2020
Höhe | Name | Jahrgang | Verein |
4,45 | Lisa Ryzih | 1988 | ABC Ludwigshafen |
4,40 | Stefanie Berndorfer (geb. Dauber) | 1987 | SSV Ulm 1846 |
4,40 | Ria Möllers | 1996 | TSV Bayer 04 Leverkusen |
4,30 | Katharina Bauer | 1990 | TSV Bayer 04 Leverkusen |
4,25 | Leni Freyja Wildgrube | 2001 | SC Potsdam |
4,20 | Ella Buchner | 2001 | LC Überlingen |
4,20 | Moana-Lou Kleiner | 2002 | SC Potsdam |
4,17 | Friedelinde Petershofen | 1995 | SC Potsdam |
4,12 | Anne Berger | 1999 | VfL Gladbeck 1921 |
4,12 | Lena Zintl | 2003 | LG Stadwerke München |
Statistik – Das sagen die Zahlen
Das deutsche Top-Niveau
Jahr | ≥ 4,55 m* | Schnitt Top 3 | Schnitt Top 5 | Schnitt Top 10 |
---|---|---|---|---|
2005 | – | 4,45 | 4,41 | 4,33 |
2006 | 3 | 4,60 | 4,57 | 4,48 |
2007 | 4 | 4,61 | 4,58 | 4,49 |
2008 | 2 | 4,62 | 4,58 | 4,48 |
2009 | 2 | 4,65 | 4,60 | 4,46 |
2010 | 5 | 4,69 | 4,66 | 4,51 |
2011 | 4 | 4,73 | 4,66 | 4,51 |
2012 | 4 | 4,69 | 4,64 | 4,49 |
2013 | 5 | 4,72 | 4,66 | 4,55 |
2014 | 2 | 4,59 | 4,55 | 4,47 |
2015 | 4 | 4,70 | 4,64 | 4,51 |
2016 | 4 | 4,68 | 4,62 | 4,49 |
2017 | 3 | 4,61 | 4,56 | 4,47 |
2018 | 1 | 4,50 | 4,46 | 4,32 |
2019 | 1 | 4,51 | 4,43 | 4,33 |
2020 | – | 4,42 | 4,36 | 4,26 |
Jahresbestleistungen im internationalen Vergleich
Jahr | Deutschland | Europa | Diff. | Welt | Diff. |
---|---|---|---|---|---|
2005 | 4,50 (Hingst) | 5,01 (Isinbayeva/RUS) | 0,51 | 5,01 (Isinbayeva/RUS) | 0,51 |
2006 | 4,63 (A. Ryzih) | 4,91 (Isinbayeva/RUS) | 0,28 | 4,91 (Isinbayeva/RUS) | 0,28 |
2007 | 4,65 (Hingst) | 4,91 (Isinbayeva/RUS) | 0,26 | 4,91 (Isinbayeva/RUS) | 0,26 |
2008 | 4,70 (Spiegelburg) | 5,05 (Isinbayeva/RUS) | 0,35 | 5,05 (Isinbayeva/RUS) | 0,35 |
2009 | 4,70 (Spiegelburg) | 5,06 (Isinbayeva/RUS) | 0,36 | 5,06 (Isinbayeva/RUS) | 0,36 |
2010 | 4,72 (Hingst) | 4,75 (Feofanova/RUS) | 0,03 | 4,89 (Suhr/USA) | 0,17 |
2011 | 4,80 (Strutz) | 4,80 (Strutz) | 0,00 | 4,91 (Suhr/USA) | 0,11 |
2012 | 4,82 (Spiegelburg) | 4,82 (Spiegelburg) | 0,00 | 4,83 (Suhr/USA) | 0,01 |
2013 | 4,79 (Spiegelburg) | 4,89 (Isinbayeva/RUS) | 0,10 | 4,90 (Silva/CUB) | 0,11 |
2014 | 4,71 (L. Ryzih) | 4,71 (L. Ryzih, Stefanidi/GRE) | 0,00 | 4,80 (Murer/BRA) | 0,09 |
2015 | 4,75 (Spiegelburg) | 4,83 (Kiriakopoúlou/GRE) | 0,08 | 4,91 (Silva/BRA) | 0,16 |
2016 | 4,73 (L. Ryzih) | 4,86 (Stefanidi/GRE) | 0,13 | 5,00 (Morris/USA) | 0,27 |
2017 | 4,73 (L. Ryzih) | 4,91 (Stefanidi/GRE) | 0,18 | 4,91 (Stefanidi/GRE) | 0,18 |
2018 | 4,60 (Otchere) | 4,87 (Stefanidi/GRE) | 0,27 | 4,95 (Morris/USA) | 0,35 |
2019 | 4,60 (L. Ryzih) | 4,95 (Sidorova/ANA) | 0,35 | 4,95 (Sidorova/ANA) | 0,35 |
2020 | 4,45 (L. Ryzih) | 4,83 (Meijer/SWE) | 0,38 | 4,95 (Sidorova/ANA) | 0,5 |
Das fällt auf:
- Lisa Ryzih ist nach 2014, 2016, 2017 und 2019 zum fünften Mal Deutschlands Stabhochspringerin mit der besten übersprungenen Höhe. Zudem holte sie sich den Hallen-Titel bei der DM in Leipzig.
- Ein Novum gab es bei den Deutschen Meisterschaften in Braunschweig: Erstmals teilten sich mit Stefanie Berndorfer (SSV Ulm 1846; geb. Dauber) und Ria Möllers (TSV Bayer 04 Leverkusen) zwei Athletinnen die Goldmedaille im Stabhochsprung der Frauen.
- Sowohl für Stefanie Berndorfer als auch für Ria Möllers war es der erste deutsche Meistertitel bei den Aktiven. 2021 wollen beide Athletinnen an ihr Überraschungs-Jahr anknüpfen.
- In der U20 zeigten die Athletinnen, dass sie die internationale Konkurrenz nicht fürchten müssen. In der weltweiten Jahresbestenliste belegen die stärksten drei deutschen Springerinnen, Leni Freyja Wildgrube (SC Potsdam), Ella Buchner (LC Überlingen) und Moana-Lou Kleiner (SC Potsdam), die Plätze sechs und sieben (Moana-Lou Kleiner und Ella Buchner teilen sich den siebten Platz).
- In der U18 gab es mit Lena Zintl (LG Stadtwerke München; 4,12 m), Janne Orth (TV Dannstadt; 4,10 m) und Maybrit Sommer (LG Lippe-Süd; 4,00 m) gleich drei Athletinnen mit Sprüngen über vier Meter.
- Seit Erfassung der Daten in unseren Disziplin-Checks war der Schnitt der deutschen Top drei, Top fünf und Top zehn noch nie so niedrig wie 2020. Das ist vor allem auf die geringen Wettkampf-Möglichkeiten im Jahr 2020 zurückzuführen.
- Weltmeisterin Anzhelika Sidorova (autorisierte neutrale Athleten) setzte sich wie im Vorjahr mit 4,95 Meter an die Spitze der weltweiten Jahresbestenliste.
leichtathletik.TV-Clips:
Die Disziplin-Analysen im Überblick:
Sprint Frauen
Sprint Männer
Langsprint Frauen
Langsprint Männer
Mittelstrecke Frauen
Mittelstrecke Männer
Langstrecke Frauen
Langstrecke Männer
Hürdensprint Frauen
Hürdensprint Männer
Langhürden Frauen
Langhürden Männer
Hindernis Frauen
Hindernis Männer
Hochsprung Frauen
Hochsprung Männer
* als Referenzwert dient die WM-Norm des Jahres 2017