Abgebrochene Trainingslager, phasenweise sportlicher Stillstand, die Olympia-Absage, eine zaghafte Rückkehr ins Training, erste Wettkämpfe und dann doch noch eine Late Season mit einigen bemerkenswerten Leistungen: Die Saison 2020 im Jahr der Corona-Pandemie war eine ganz besondere, die allen Beteiligten viel abverlangt hat. Wir blicken mit den Disziplinverantwortlichen im Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) zurück auf die vergangenen Monate, ziehen Bilanz und wagen einen Ausblick auf die Olympia-Saison 2021. Heute: Speerwurf der Männer.
Fazit des Bundestrainers
Boris Obergföll, wie haben Sie persönlich das Corona-Jahr 2020 als Bundestrainer und Heimtrainer erlebt?
Boris Obergföll:
Es war für uns alle eine absolut neue, schwierige Situation, die in keinem Lehrbuch steht. Mal konnte man trainieren, mal nicht. Und dann war es auch von Region zu Region unterschiedlich geregelt. Als die meisten Wettkämpfe abgesagt bzw. wie die Olympischen Spiele verschoben worden sind, fehlte das große sportliche Ziel. Darunter hat bei einigen Athleten die Motivation gelitten. Nichtsdestotrotz bin ich froh, dass es noch einige gute Wettkämpfe in der Late Season gab.
Was waren in diesem Jahr die größten Herausforderungen für Sie und die deutschen Speerwerfer?
Boris Obergföll:
Die größte Herausforderung war der Faktor Motivation. Der war noch ausgeprägter als die schwierige Trainingssituation. Schließlich haben wir in Deutschland eine enorme Anzahl an Weltklasse-Speerwerfern, die mit den entsprechend hohen Zielen ins Jahr 2020 gestartet sind. Wenn dann die Saisonhöhepunkte ausfallen, kann es schwer für die Athleten werden. Diese Ungewissheit, für welche Ziele man trainiert, wirkt sich auf die tägliche Arbeit aus und man kann schnell in dieses sprichwörtliche Loch fallen.
Welche Athleten haben sich im Jahr 2020 trotz der veränderten Rahmenbedingungen am positivsten entwickelt?
Boris Obergföll:
Da muss ich natürlich Johannes Vetter nennen, auch wenn ich ihn als Heimtrainier betreue. Er hat sich toll durch diese schwierige Saison gekämpft und mit dem zweitweitesten Wurf der Geschichte auf 97,76 Meter ein überragendes Ergebnis abgeliefert. Auch Andreas Hofmann hat mit 85 Metern seine gute Basis unter Beweis gestellt. Andere Athleten haben 2020 als Übergangsjahr betrachtet und Verletzungen auskuriert, damit sie gesund in die Olympiavorbereitung starten können.
Wie wollen und können Sie die Kader-Arbeit in Vorbereitung auf die Olympischen Spiele in den kommenden Monaten gestalten?
Boris Obergföll:
Klar ist, dass wir auch in den kommenden Monaten viel über Videokonferenzen den Kontakt suchen werden. Denn aufgrund der Corona-Pandemie werden wir uns so schnell nicht mehr in großen Gruppen treffen. Aus dieser Situation müssen wir das Beste machen. Johannes Vetter hat gezeigt, dass man auch in dieser schwierigen Situation viel erreichen kann.
Wichtig ist, dass wir in den kommenden Monaten kreative Lösungen finden. Dazu zählen definierte Trainingsorte, wo wir unter strengen Hygienekonzepten in einer Bubble trainieren können. Fest steht: Wir werden uns so professionell wie möglich auf die Olympischen Spiele in Tokio vorbereiten. Denn diesen Weg werden auch die anderen Top-Nationen auf ihrem Weg nach Tokio einschlagen.
Welche Präsenz und Leistung erhoffen Sie sich in Tokio von den deutschen Speerwerfern?
Boris Obergföll:
Wir haben das Potenzial, mit ein bis zwei Medaillen von den Olympischen Spielen nach Hause zu kommen. Nach dieser überragenden Saison hat Johannes natürlich das Ziel, in Tokio zu gewinnen. Aber auch unsere anderen Top-Werfer haben hohe Ziele. Wichtig ist, dass alle gut und gesund durch den Winter kommen. Das ist die Basis für den Erfolg im Sommer. Bei aller Euphorie darf man nicht vergessen, dass der Speerwurf eine Disziplin der Überraschungen ist. Das haben einige Weltmeisterschaften und Olympischen Spiele in den vergangenen Jahren gezeigt.
Mit welchen Hoffnungen und Erwartungen blicken Sie aufs Leichtathletik-Jahr 2021?
Boris Obergföll:
Auf den Speerwurf bezogen, dass wir wie bei der EM 2018 in Berlin auch in Tokio zwei Medaillen gewinnen können. Für die Leichtathletik generell hoffe ich, dass die Vereine wieder regelmäßig Veranstaltungen austragen können. Das ist gleichermaßen wichtig für die Athleten an der Basis und die Vereine. Noch weiter gefasst hoffe ich, dass wir die Corona-Pandemie global in den Griff bekommen und ein Impfstoff wieder ein Stück Normalität in unser Leben bringt. Denn – um auf den Sport zurückzukommen – die Athleten sehnen sich wieder nach Wettkämpfen mit Fans im Stadion. Es wäre großartig, wenn das 2021 klappen würde.
Unser "Ass des Jahres"
Johannes Vetter (LG Offenburg)
Deutscher Meister 2020
Nummer eins der Weltjahresbestenliste
Mit 97,76 m gelang ihm der zweitweiteste Wurf der Geschichte
Unser "Talent des Jahres"
Max Dehning (LG Celle-Land)
Deutscher U18-Meister im Sommer und Winter
Führt die deutsche U18-Bestenliste mit 75,57 m an
Steigerung mit 700-g-Speer innerhalb eines Jahres um fast 25 m
Die deutschen Top Ten 2020
Weite | Name | Jahrgang | Verein |
---|---|---|---|
97,76 m | Johannes Vetter | 1993 | LG Offenburg |
85,24 m | Andreas Hofmann | 1991 | MTG Mannheim |
74,98 m | Jakob Nauck | 1999 | SC DHfK Leipzig |
74,80 m | Niklas Sagawe | 2000 | Polizei SV Eutin |
72,97 m | Tom Meier | 1997 | LC Jena |
72,74 m | Nico Rensmann | 1996 | TSV Bayer 04 Leverkusen |
72,13 m | Maurice Voigt | 2000 | LG Ohra Energie |
71,47 m | Jonas Bonewit | 1995 | LG Stadtwerke München |
70,83 m | Nils Fischer | 1997 | TSV Bayer 04 Leverkusen |
69,57 m | Linus Limmer | 2000 | LG Stadtwerke München |
Statistik – Das sagen die Zahlen
Das deutsche Top-Niveau: Speerwurf Männer
Jahr | < = 83,00* | Schnitt Top 3 | Schnitt Top 5 | Schnitt Top 10 |
---|---|---|---|---|
2005 | 3 | 83,72 | 82,73 | 79,71 |
2006 | 3 | 84,32 | 82,81 | 79,48 |
2007 | - | 82,49 | 81,61 | 80,05 |
2008 | 2 | 83,16 | 82,54 | 79,90 |
2009 | 2 | 82,87 | 81,58 | 79,67 |
2010 | 1 | 83,60 | 81,60 | 79,02 |
2011 | 2 | 85,09 | 82,82 | 79,94 |
2012 | 2 | 81,74 | 81,36 | 79,75 |
2013 | 2 | 83,52 | 82,55 | 80,45 |
2014 | 2 | 84,83 | 82,91 | 78,89 |
2015 | 4 | 86,94 | 85,24 | 81,56 |
2016 | 4 | 89,71 | 88,07 | 82,22 |
2017 | 6 | 93,14 | 90,39 | 83,99 |
2018 | 5 | 92,18 | 89,67 | 82,33 |
2019 | 5 | 89,58 | 88,32 | 82,01 |
2020 | 2 | 86,00 | 81,15 | 76,25 |
Entwicklung der internationalen Jahresbestleistungen
Jahr | Deutschland | Europa | Diff. | Welt | Diff. |
---|---|---|---|---|---|
2005 | 84,88 (M. Frank) | 91,53 (Pitkämäki/FIN) | 6,65 | 91,53 (Pitkämäki/FIN) | 6,65 |
2006 | 85,30 (P. Esenwein) | 91,59 (Thorkildsen/NOR) | 6,29 | 91,59 (Thorkildsen/NOR) | 6,29 |
2007 | 82,78 (P. Esenwein) | 91,23 (Pitkämäki/FIN) | 8,45 | 91,29 (Greer/USA) | 8,45 |
2008 | 83,50 (S. Steding) | 90,57 (Thorkildsen/NOR) | 7,07 | 90,57 (Thorkildsen/NOR) | 7,07 |
2009 | 83,86 (M. Frank) | 91,28 (Thorkildsen/NOR) | 7,42 | 91,28 (Thorkildsen/NOR) | 7,42 |
2010 | 87,81 (M. de Zordo) | 90,37 (Thorkildsen/NOR) | 2,56 | 90,37 (Thorkildsen/NOR) | 2,56 |
2011 | 88,36 (M. de Zordo) | 90,61 (Thorkildsen/NOR) | 2,25 | 90,61 (Thorkildsen/NOR) | 2,25 |
2012 | 82,10 (T. Häber) | 88,34 (Vesely/CZE) | 6,24 | 88,34 (Vesely/CZE) | 6,24 |
2013 | 84,20 (L. Hamann) | 89,03 (Pitkämäki/FIN) | 4,83 | 89,03 (Pitkämäki/FIN) | 4,83 |
2014 | 87,63 (T. Röhler) | 88,01 (Ruuskanen/FIN) | 0,38 | 89,21 (El Sayed/EGY) | 1,58 |
2015 | 89,27 (T. Röhler) | 89,27 (Röhler/GER) | 0,00 | 92,72 (Yego/KEN) | 3,45 |
2016 | 91,28 (T. Röhler) | 91,28 (Röhler/GER) | 0,00 | 91,28 (Röhler/GER) | 0,00 |
2017 | 94,44 (J. Vetter) | 94,44 (Vetter/GER) | 0,00 | 94,44 (Vetter/GER) | 0,00 |
2018 | 92,70 (J. Vetter) | 92,70 (J. Vetter/GER) | 0,00 | 92,70 (J. Vetter/GER) | 0,00 |
2019 | 90,03 (J. Vetter) | 90,61 (Kirt/EST) | 0,58 | 90,61 (Kirt/EST) | 0,58 |
2020 | 97,76 (J. Vetter) | 97,76 (J. Vetter/GER) | 0,00 | 97,76 (J. Vetter/GER) | 0,00 |
Das fällt auf:
- Johannes Vetter war in der kurzen Corona-Saison 2020 der dominierende Athlet in der Welt. Angeführt vom zweitbesten Wurf der Geschichte auf 97,76 Meter gelangen dem Weltmeister von 2017 die besten acht (!) Würfe der Saison.
- Die Weltjahresbestenliste führt Johannes Vetter mit fast zehn Metern Vorsprung auf den Inder Neeraj Chopra an. Es ist das vierte Mal in den vergangenen fünf Jahren, dass ein deutscher Speerwerfer zum Ende des Jahres ganz vorn in der Weltjahresbestenliste steht.
- Trotz der herausragenden Leistung von Johannes Vetter sind die Durchschnittswerte der deutschen Speerwerfer deutlich gesunken. Der Grund: Einige deutsche Top-Werfer verzichteten nach der Verschiebung der Olympischen Spiele auf Wettkämpfe. Das wirkte sich massiv auf die Statistik aus. So sank der Top-10-Schnitt im Vergleich zum Vorjahr von 82,01 auf 76,25 Meter. Auch im weltweiten Vergleich ist der Top-10-Durchschnitt zurückgegangen. Von 88,65 Meter im Vorjahr auf 87,07 Meter im Jahr 2020.
- Lediglich Vize-Europameister Andreas Hofmann konnte 2020 neben Johannes Vetter noch die 80-Meter-Marke übertreffen. Zum Vergleich: Vergangenes Jahr warf ein deutsches Quintett weiter als 86 Meter.
- Die Besonderheit der Saison 2020 zeigt auch ein Blick in die deutschen Top 10. Zwischen der nationalen (und globalen) Nummer eins Johannes Vetter und der deutschen Nummer zehn Linus Limmer liegen mehr als 28 Meter.
- Auch der deutsche Nachwuchs hatte aufgrund der Corona-Pandemie nur eingeschränkte Wettkampfmöglichkeiten. Trotz der schwierigen Vorbereitung überzeugte der Deutsche U18-Meister Max Dehning mit neuem Niedersachsen-Rekord von 75,57 Metern.
leichtathletik.TV-Clips
Die Disziplin-Analysen im Überblick:
Sprint Frauen
Sprint Männer
Langsprint Frauen
Langsprint Männer
Mittelstrecke Frauen
Mittelstrecke Männer
Langstrecke Frauen
Langstrecke Männer
Hürdensprint Frauen
Hürdensprint Männer
Langhürden Frauen
Langhürden Männer
Hindernis Frauen
Hindernis Männer
Hochsprung Frauen
Stabhochsprung Frauen
Stabhochsprung Männer
Weitsprung Frauen
Weitsprung Männer
Dreisprung Frauen
Dreisprung Männer
Speerwurf Frauen
* als Referenzwert dient die WM-Norm des Jahres 2017