Sie ist die jüngste Athletin im deutschen EM-Team: Weitspringerin Mikaelle Assani feiert während der European Championships ihren 20. Geburtstag. Nachdem sie die Heim-EM in Berlin vor vier Jahren noch im Rahmen eines Jugendlagers miterlebte, wird sie am Dienstag zum ersten Mal bei einer internationalen Meisterschaft der Aktiven Anlauf nehmen.
Knapp eine Woche vor ihrer EM-Premiere präsentierte sich Mikaelle Assani (LG Region Karlsruhe) noch ganz entspannt. „Jetzt bin ich eigentlich noch nicht aufgeregt – ich glaube, das ist auch gut“, sagte die 19-Jährige am vergangenen Donnerstag im bayerischen Erding, wo sie sich wie zahlreiche weitere Nationalmannschaftsmitglieder auf die Europameisterschaften in München vorbereitete. „Sonst verpulvere ich das alles, bevor der Wettkampf überhaupt angefangen hat.“ Gleichzeitig räumte sie ein: „Ich glaube, nächste Woche sieht das dann anders aus.“
Als die Karlsruherin 2018 die Heim-EM in Berlin mitverfolgte, hätte sie sich noch nicht träumen lassen, dass sie vier Jahre später Teil der deutschen Mannschaft sein – und dann ebenfalls vor Heimpublikum antreten würde. Denn die damals 15-Jährige erlebte die kontinentalen Titelkämpfe im Rahmen eines DLV-Jugendlagers mit, das im Olympiastadion zusammenkam. „Deshalb ist es für mich viel krasser, dass ich jetzt selbst an der EM teilnehme. Ich hätte damals nie gedacht, dass ich hier starten werde, nur vier Jahre später. Das ist dann schon, wie ich manchmal sage, ein Brett, dass ich das geschafft habe“, resümiert die 19-Jährige.
2018 erwies sich für sie noch in anderer Hinsicht als Schicksalsjahr: Mikaelle Assani wechselte bei der LG Region Karlsruhe in die Gruppe von Udo Metzler und trainierte fortan unter anderem mit dem mehrmaligen Deutschen Meister Julian Howard zusammen. Ab diesem Zeitpunkt war der jungen Athletin klar: Das kann was werden mit dem Weitsprung. „Udo hat ein gewisses Leistungsniveau in der Gruppe“, sagt Mikaelle Assani. Der frühere Dreisprung-Bundestrainer hat bereits viele Athleten an die Spitze geführt. Heute zählt zum Beispiel Nachwuchssprinter Heiko Gussmann, der kürzlich bei der U20-WM in Cali (Kolumbien) Startläufer des deutschen 4x100-Meter-Quartetts war, zur Trainingsgruppe.
Vom Lehrer entdeckt
Ihr Deutsch- und Sportlehrer war es einst gewesen, der dem Teenager den Weg zur Leichtathletik wies. „Er kam in meinen Unterricht und meinte: ‚Mikaelle, das ist die Nummer vom Leichtathletikverein in Karlsruhe. Melde dich da an‘“, erzählt Assani. Nach einem Schnuppertraining war sie sofort Feuer und Flamme. Ihr Talent hatte sich bereits frühzeitig abgezeichnet: „Schon in der Grundschule habe ich immer wieder gehört: ‚Du bist so schnell, du springst so gut.‘“
In der Schule spielte das Nachwuchstalent zwar auch gerne Basketball, doch die Entscheidung zugunsten der Leichtathletik war bald getroffen. „Ich habe mich mit der Leichtathletik sicherer gefühlt, weil ich sie schon in der Grundschule betrieben habe“, erzählt Mikaelle Assani. „Basketball gespielt habe ich nur auf dem Gymnasium und nicht im Verein.“ Auch der Aspekt der Unabhängigkeit gefalle ihr an der Leichtathletik: Schließlich trägt jeder Athlet die Verantwortung für seine Einzelleistung, während im Mannschaftssport die Leistung des Teams von Einzelnen nur bedingt beeinflusst werden kann.
Zelte in den USA nach einem Jahr wieder abgebrochen
Nach ihrem Abitur 2020 entschied sich die junge Sportlerin zunächst für ein freiwilliges soziales Jahr (FSJ), das sie in einem Kinderheim absolvierte. Bis heute trägt sie an ihrem Sportrucksack einen Anhänger mit einem Engelsflügel, den sie beim FSJ geschenkt bekam und der ihr im Wettkampf Flügel verleihen soll. Danach verwirklichte sie einen lange gehegten Traum: „Schon seit ich 14 oder 15 war, habe ich mich mit dem Gedanken beschäftigt, in die USA zu gehen.“
Frühzeitig kümmerte sie sich um ein Visum, suchte mit der University of Nebraska in Lincoln die passende Hochschule aus. Der Schritt über den großen Teich bedeutete für sie eine Chance auf neue Impulse und ein professionalisiertes Umfeld. „Ich habe mich entschieden, die Erfahrung zu machen, damit ich später nichts bereue. Ich wollte nicht irgendwann darüber nachdenken, was gewesen wäre, wenn ich in die USA gegangen wäre“, meint Mikaelle Assani.
Ihre Zeit in Lincoln beschreibt sie als „Achterbahnfahrt der Gefühle. Es hatte schöne Seiten, es hatte leider auch nicht so gute Zeiten. Menschlich gesehen war es super schön. Ich habe super Leute kennengelernt aus aller Welt und habe jetzt gute Freunde aus Australien, Schweden, Amerika …“ Auch sportlich sei die Erfahrung wertvoll gewesen. Es habe sich gelohnt, auch einmal die Ansätze eines anderen Trainers kennenzulernen. Dennoch brach sie das Erlebnis USA bereits im Mai dieses Jahres wieder ab und kehrte nach Karlsruhe zurück. In Nebraska hatten sich Fußprobleme bei ihr bemerkbar gemacht und in die Zusammenarbeit mit ihren Trainern schlichen sich Konflikte ein.
Erste Begegnungen mit der Weltelite
Ihr Studium des Bio-Ingenieurswesens, das sie bereits in den USA begonnen hat, wird sie nun in Karlsruhe wieder aufnehmen. „Im Prinzip hatte ich jetzt zwei Auslandssemester, davon können andere nur träumen“, sagt die 19-Jährige. Trotz der Fußprobleme kann Mikaelle Assani auf eine erfolgreiche Saison zurückblicken, sie sprang Ende Juni im Berliner Olympiastadion als Dritte erstmals bei Deutschen Meisterschaften der Aktiven aufs Podest. Ein Ergebnis, das ihr wertvolle Ranking-Punkte auf den Weg zur EM einbrachte.
Bereits nach ihrem dritten Platz bei den U20-Europameisterschaften in Tallinn (Estland) vergangenes Jahr (dort stellte Assani mit 6,64 Metern ihre persönliche Bestleistung auf) hatte sie mit einer EM-Teilnahme in München geliebäugelt und sich in diesem Jahr bereits in Wettkämpfen namhafter Konkurrenz gestellt: Bei zwei Meetings traf die 19-Jährige auf Vize-Weltmeisterin Ese Brume (Nigeria).
Sowohl in Bern (Schweiz) als auch in Sotteville-les-Rouen (Frankreich) belegte sie hinter Brume Platz zwei und konnte sich mit der Weltklasse-Athletin auch gleich bekannt machen. Die beiden Weitspringerinnen verbindet etwas: Mikaelles Vater stammt ebenfalls aus Nigeria, ihre Mutter aus Kamerun. Die sportlichen Möglichkeiten, die ihre Tochter heute hat, blieben den Eltern einst verwehrt. „Meine Mutter erzählt mir oft, wie gut sie im Kugelstoßen und Hochsprung war“, berichtet die 19-Jährige. „Aber meine Eltern hatten niemanden, der sie gefördert hat. In den Ländern und den Verhältnissen, in denen meine Eltern aufgewachsen sind, hat der Sport keine Priorität.“
Familie und Freunde im Stadion
Daher ist der sportliche Erfolg auch für Mikaelle Assani alles andere als selbstverständlich: „Ich bin so dankbar, hier zu sein. So viele Athleten sind gut und arbeiten auf solche Ziele hin – und bei mir hat das letztendlich geklappt“, sagt sie. Ihre Eltern werden sie beim EM-Debüt im Stadion anfeuern, auch viele Freunde aus Karlsruhe haben dank der Nähe zur Heimat versprochen, nach München zu kommen.
Dass sie viele Abläufe bei einer internationalen Meisterschaft schon von der U20-EM in Tallinn kennt, empfindet die Deutsche U23-Vizemeisterin als Vorteil. „Der Callroom, die ganzen anderen Nationen, das Germany-Trikot: Das sind alles Faktoren, die am Anfang verunsichern können, aber dadurch, dass ich schon internationale Erfahrung habe, fällt mir diese Last von den Schultern. Ich habe aber auch Respekt davor, mit den Großen zu springen. Das sind schließlich die Besten aus Europa“, meint sie.
Auch im Vorbereitungs-Camp in Erding musste sie die neuen Nationalmannschaftskolleginnen und -kollegen erst einmal kennenlernen. „Die Leute kennen mich nicht und ich kenne sie nicht. Aber am Essenstisch redet man immer mehr miteinander, tauscht sich aus und ich nutze meine Chance, von den Großen ein paar Tipps abzustauben“, sagt die Weitspringerin. „Man muss sich hier auch erst einmal einleben und zurechtfinden. Ich bin einfach ich selbst und schaue dann, mit wem es Klick macht.“
Gelassenheit als Schlüssel zum Erfolg
Ähnlich gelassen geht Mikaelle Assani ihre erste Heim-EM an, die für sie mit der Weitsprung-Qualifikation am Dienstag beginnt: „Mir ist es vor einem Wettkampf immer wichtig, nicht gestresst zu sein. Ich nehme mir Zeit für alles; nicht nur fürs Aufwärmen, sondern auch wenn es darum geht, mich fertig zu machen und zu schminken.“ Wenn sie entspannt sei und sich in ihrer Haut wohlfühle, laufe der Wettkampf auch gleich besser. „Und mein Markenzeichen ist, dass ich immer eine andere Frisur habe. Das liegt daran, dass meine Mutter Friseurin ist“, erklärt sie lachend.
Druck macht sie sich vor den Europameisterschaften nicht. „Ich versuche, das mit Spaß anzugehen, locker zu bleiben und Erfahrungen zu sammeln. Alles, was dazukommt, nehme ich dankend an.“ Ein „kleines Ziel“ dabei: „Eine PB wäre cool. Ich glaube, wenn ich PB springe, ist das Finale auch nicht unrealistisch.“ Die Statistik gibt ihr recht – mit einem Resultat von 6,64 Metern hätte man bei allen bisherigen Europameisterschaften die Qualifikation überstanden. Für die junge Athletin wäre der Finaleinzug darüber hinaus ein besonderes Geschenk: Denn am 18. August, an dem das Weitsprung-Finale stattfindet, wird sie 20 Jahre alt.